Neue Westfälische - Paderborner Kreiszeitung
„Es gibt Grenzen der Auslegung“
Als Ex-präsidenten des Bundesverfassungsgerichts waren beide lange oberste Hüter des Grundgesetzes. Hans-jürgen Papier und Andreas Voßkuhle über die Stärken der Verfassung, den Einfluss darauf von Politik und Justiz – und ob der Text gegendert werden soll
Herr Professor Papier, Herr Professor Voßkuhle, das Grundgesetz feiert 75. Geburtstag, aber im Volk herrscht kaum Partystimmung. Sind die Deutschen ihrer Verfassung emotional nicht so verbunden wie, sagen wir, der Fußballnationalmannschaft?
Papier: Auch ohne Feierlaune identifiziert sich ein Großteil der Deutschen mit dem Grundgesetz. Das gilt sicher nicht für alle Artikel gleichermaßen. Aber es gilt insbesondere für die Festschreibung einer freiheitlichen, rechtsstaatlichen und demokratischen Grundordnung und für das Bekenntnis zur Sozialstaatlichkeit.
Und wo haben Sie das Volk skeptischer erlebt? Papier: Weniger groß scheint mir zum Beispiel die Zustimmung zur Bundesstaatlichkeit. Der Föderalismus wird nicht selten zu Unrecht als Hemmschuh oder als Grundlage eines Flickenteppichs gesehen.
Voßkuhle: Die Zustimmung zum Grundgesetz ist aber insgesamt sehr hoch: Laut einer neuen Studie vertrauen ihm und dem Bundesverfassungsgericht
mehr als 80 Prozent der Deutschen. Dieser „Verfassungspatriotismus“ist schon lange sehr stabil. Er mag nicht so emotional geprägt sein wie der Glaube an die Nationalmannschaft oder die Religion. Aber er ist eine zentrale Grundlage unserer bundesrepublikanischen Identität. Da braucht es keine Girlanden!
Sie beide waren für viele Jahre oberste Hüter des Grundgesetzes, haben Sie denn einen emotionalen Bezug dazu? Können Sie sich für bestimmte Artikel regelrecht begeistern?
Voßkuhle: Ich spüre durchaus eine emotionale Verbindung. Das Grundgesetz ist für mich nicht nur ein Text, sondern ein großes Versprechen. Dieses Versprechen am Bundesverfassungsgericht zu konkretisieren und mit Leben zu erfüllen war für mich eine Herzensaufgabe und nicht nur ein Job. Ich glaube, jedem Verfassungsrechtler geht das Herz auf, wenn er Artikel 1 Absatz 1 liest: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“Von diesem Satz her müssen wir das ganze Grundgesetz lesen: Im Mittelpunkt steht der Einzelne als Träger von Rechten, den wir als frei und gleich betrachten.
Papier: Dem stimme ich uneingeschränkt zu. Schon diesen Satz 1949 so prominent zu platzieren war auch im Vergleich mit anderen Grundrechtserklärungen einmalig – natürlich war das eine Reaktion auf die Willkürherrschaft der Nationalsozialisten. Ein Weiteres kommt hinzu: Indem Artikel 1 Absatz 3 direkt danach besagt, dass alle staatlichen Gewalten unmittelbar an diese Grundrechte gebunden sind, sind diese nicht nur lyrische Verheißungen, sondern einklagbares Recht, bindend auch für die Gesetzgebung. Und ein zweiter Artikel, der für mich zentral ist, ist Artikel 5.
Die Freiheit von Meinung, Presse, Kunst und Wissenschaft.
Papier: Diese ist eine der Grundlagen jeder Freiheit überhaupt und für eine Demokratie konstitutiv. Bedenklich ist, dass die Meinungsfreiheit inzwischen zunehmend eingegrenzt wird oder dies zumindest versucht wird – nicht unbedingt vom Staat, sondern von einzelnen gesellschaftlichen Gruppierungen. In Umfragen sagen heute 40 Prozent der Deutschen, sie haben das Gefühl, man könne nicht immer frei reden.
Voßkuhle: Man muss hier klar unterscheiden: Das Grundgesetz gewährleistet weiter in Artikel 5 Absatz 1 die freie Meinungsäußerung. Daran hat sich nichts geändert. Aber immer mehr Menschen haben trotzdem das Gefühl, mit ihren Äußerungen schnell Ärger und heftige Gegenreaktionen auszulösen, gerade auch in den sozialen Medien. Das tut der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung nicht gut. Die Vorstellung,
„Wenn es bisher keine Bundespräsidentin gegeben hat, lag das sicher nicht daran, dass im Grundgesetz nur vom „Bundespräsidenten“die Rede ist.“ Hans-jürgen Papier, Präsident des Bundesverfassungsgerichts von 2002 bis 2010
„Das Grundgesetz ist für mich nicht nur ein Text, sondern ein großes Versprechen.“ Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts von 2010 bis 2020
dass man sich vor Meinungen, die man nicht teilt, schützen muss, ist das Ende einer offenen, streitbaren Demokratie.
Welche Rolle spielt die Sprache des Grundgesetzes dabei, ob es die Menschen als zeitgemäß empfinden? Jüngst sollte zum Beispiel das Wort „Rasse“gestrichen werden, weil es biologisch keine Menschenrassen gibt. Der Vorstoß ist gescheitert. Droht das Grundgesetz irgendwann altbacken zu wirken? Papier: Ich sehe in solchen Versuchen eher einen Hang zur Symbolgesetzgebung: Man kann eine solche angeblich zeitangemessene Sprachregulierung vornehmen. Aber wir haben größere Probleme, auch in Hinblick auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.
Voßkuhle: Stimmt, das sind Nebenkriegsschauplätze. Wie auch die Diskussionen, ob eigene Kinderrechte ins Grundgesetz gehören.
Das wäre für Sie auch reine Semantik?
Voßkuhle: Ja, denn wir haben schon eine sehr ausgeprägte Rechtsprechung, die Kinder sehr gut schützt. Man kann die Inhalte dieser Rechtsprechung ausdrücklich in die Verfassung schreiben. Aber an der materiellen Rechtslage ändert das nichts.
Viele Medien und Universitäten nutzen inzwischen geschlechtergerechte Sprache. Womöglich wirkt die rein männliche Form im Grundgesetz bald überholt: „Jeder Deutsche hat das Recht …“Ist das noch zeitgemäß?
Voßkuhle: Ich habe nichts gegen das Gendern, meine Vorlesungsmaterialien sind zum Beispiel gegendert. Aber die Genderdebatte ufert schnell emotional aus. Und ob das Grundgesetz schöner wird, wenn wir es gendern? Nehmen wir „Bundeskanzlerin und Bundeskanzler“oder „Bundespräsidentin und Bundespräsident“: Wenn man das überall doppeln oder mit Sternchen arbeiten wollte, würde das dem Text vielleicht doch etwas seine ursprüngliche Würde nehmen – ohne inhaltlich etwas zu verbessern.
Papier: Sie sprechen zu Recht die Titel von Verfassungsorganen und Organträgern an: Es heißt im Grundgesetz „der Bundeskanzler“, aber ich meine doch, dass Angela Merkel keinen Anstoß genommen hat, dass sie im Grundgesetz den Titel „Bundeskanzler“trug. Und wenn es bisher keine Bundespräsidentin gegeben hat, lag das sicher nicht daran, dass im Grundgesetz nur vom „Bundespräsidenten“die Rede ist.