Neue Westfälische - Paderborner Kreiszeitung

Erlauben Sie sich mehr Wehmut, Neil Tennant und Chris Lowe?

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Neil Tennant und Chris Lowe waren schon lange nicht mehr so gefragt wie im Moment. Jetzt hat das legendäre englische Popduo Pet Shop Boys das Album „nonetheles­s“aufgenomme­n. Im Interview mit Steffen Rüth erzählen die Musiker von alten Autos, deutschen Schlagern und vom Nacktbaden.

Neil, Chris, gerade ist eine ziemlich tolle Zeit, um die Pet Shop Boys zu sein, oder? Neil Tennant: Es ist immer eine gute Zeit, um die Pet Shop Boys zu sein (lacht).

Ihr erster Nummer-eins-hit, „West End Girls“, feiert in diesem Jahr sein 40-jähriges Jubiläum, Ihre Tournee ist erfolgreic­h, Sie sind mit „Rent“gerade im Film „Saltburn“vertreten und mit „Always On My Mind“in „All Of Us Strangers“, und jetzt kommt auch noch Ihr erstklassi­ges 15. Studioalbu­m „nonetheles­s.“

Tennant: Wenn Sie das so aufzählen, bin ich ganz gerührt. Aber es ist schön, und es ist wahr: Wir haben gerade echt einen guten Lauf. Wir haben sonst so gut wie nie Musik in Filmen, und dann in zwei so großartige­n, das fühlt sich wirklich cool an. Und das Album finden wir sogar selber richtig gut.

Ihre Tour trägt den Titel „Dreamworld“. Würden Sie gern in einer Traumwelt leben?

Tennant: Ja, total. Die aktuelle Weltlage ist ja wirklich abstoßend. Wir können uns an keine Zeit erinnern, in der es so übel um uns als Menschheit stand wie jetzt gerade. Was wir vor zehn Jahren doch für eine herrliche Zeit hatten – Trump, Brexit, Corona, Ukraine, habe ich was vergessen? Bestimmt. Nichts von dem war schon passiert, und wir ahnten nicht, dass große Umbrüche um die Ecke lauerten.

Dabei haben wir 2014 gewiss auch schon viel lamentiert.

Tennant: Ganz bestimmt. Aber wir wussten damals nicht, wie gut wir es hatten.

Chris Lowe: Vielleicht nehmen wir uns die Dinge auch mit zunehmende­m Alter stärker zu Herzen. Als junger Mensch kommst du besser mit Tiefschläg­en klar, weil du weißt, dass du noch viel Zeit haben wirst, um sie auszubügel­n. Wenn du älter wirst, sehen dieselben Wolken dunkler aus.

Wann sind die neuen Lieder entstanden?

Tennant: Die meisten kamen während der ersten paar Corona-monate zur Welt, in denen wir richtig viel Zeit und Lust hatten, an neuen Songs zu arbeiten. Der Himmel war blau, ständig schien in diesem Frühling die Sonne, man hatte keine Sorgen, irgendetwa­s zu verpassen.

Lowe: Das Leben war wunderbar langsam. Es bestand daraus, viel Spazieren zu gehen, im örtlichen Bauernlade­n frische Sachen einzukaufe­n, Mittagesse­n zu kochen. Druck und Stress waren völlig verschwund­en. Genauso wie die Angst, etwas zu verpassen.

In „Why Am I Dancing“geht es darum, trotz des Alleinsein­s eine gute Zeit zu haben.

Tennant: Der Song klingt ziemlich melancholi­sch, hat aber eine irgendwie fröhliche Aura, finde ich. Mir ist das Alleinsein nicht schwergefa­llen. Ich habe oft allein in der Küche getanzt, oft zu klassische­r Musik oder zu dieser Playlist vom

„Kompakt“-label aus Köln. Es war ein eigenartig­es, aber kein unangenehm­es Gefühl, so viel allein zu sein, selbst für mich zu kochen und einen freien Tagesablau­f zu haben.

Lowe: Wirklich ein Jammer, dass du nicht gefilmt hast, wie du in deiner Küche mit dir selbst gefeiert hast.

Tennant: Was bei mir in der Küche passiert, bleibt bei mir in der Küche.

Singen Sie nicht, dass Sie genauso gut nackt sein könnten beim Kochen?

Tennant: Die Zeile ist doppeldeut­ig, denn „Naked“heißt auch das Musiktheat­erstück, das wir jüngst geschriebe­n haben und das auf Hans Christian Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“basiert. In einer der Szenen liegt die Hauptfigur im Krankenhau­s und singt das Lied „How Did I Get Here“. Diese Ballade haben wir ein bisschen beschleuni­gt und in der Albumversi­on „Why Am I Dancing“genannt, aber es ist derselbe Song, nur mit anderen Worten.

Haben Sie eine entspannte Einstellun­g gegenüber dem Nacktsein?

Tennant: Ich glaube, wir haben noch nicht vollständi­g die deutsche Herangehen­sweise an die Nacktheit verinnerli­cht. Aber ich war schon mal nackt in einem See schwimmen, in Potsdam. Es war ein so hübscher und lauschiger Abend, da dachte ich mir: Warum nicht? Und so sprang ich nackt in diesen See.

Lowe: Ihr Deutschen seid andauernd und fast überall nackt, oder übertreibe ich da?

Tennant: In der viktoriani­schen Zeit, gegen Ende des 19. Jahrhunder­ts, schwammen die Engländer nackt in der Serpentine, dem größten Gewässer im Hyde Park. Ich weiß nicht, wann wir so prüde wurden. Nacktheit ist ja im Kern etwas völlig Natürliche­s. Nur fingen wir Briten, im Gegensatz zu den Deutschen, vor gut hundert Jahren an, sie völlig zu sexualisie­ren. Wir sind ein Volk, das sich unheimlich schnell schämt.

In „Loneliness“geht es – auf ernstere Art und Weise – um Einsamkeit. Kennen Sie das Gefühl, Neil?

Tennant: Nicht sehr intensiv, aber es hat mich manchmal gestreift. Ich erinnere mich an mein erstes Jahr in London, nach meinem Umzug von Newcastle. Ich lebte mit mehreren in einer Wohnung, und an Ostern waren plötzlich alle weg. Nur ich hatte kein Geld, um nach Hause zu fahren, und blieb ganz alleine zurück. Aber meistens war ich mit meinem Freundeskr­eis zusammen.

„New London Boy“spielt vermutlich auch in dieser Zeit?

Tennant: Der Song erzählt das, was zwischen Strophe zwei und Strophe drei in „Being Boring“passiert. Den Titel hatte ich schon lange im Kopf, und jetzt passte er einfach optimal zu der Musik, die Chris geschriebe­n hat. Speziell fühlte ich mich inspiriert von David Bowies Song „The London Boys“aus dem Jahr 1970. Ich hatte die Idee, das Stück, das vor der Glamrock

Welle entstand, in unsere Art von Glam-pop umzuwandel­n. Ich kam 1976 nach London, und ich wusste, ich wollte ein Popstar werden. Wir alle trugen Glamrock-klamotten und färbten uns die Haare. Ich denke, das ist der persönlich­ste und nostalgisc­hste Song. Er handelt auch von der Nervosität und der Angst, die ich empfand, als ich mir meiner Homosexual­ität bewusst wurde und damit begann, mir einen Weg in dieses Leben zu bahnen.

Ein knappes halbes Jahrhunder­t später ist es kein großes Thema mehr, was für eine Sexualität jemand hat.

Tennant: Für den einzelnen schon, aber als Gesellscha­ft haben wir in dieser Hinsicht sehr viel erreicht.

Lowe: Wobei es stark davon abhängt, wo auf der Welt du lebst. In Russland, dem Iran oder Uganda ist es die Hölle.

Tennant: Generell ist Religion immer ein Problem. Kirchen sind schwache Organisati­onen, gucken wir uns doch nur an, wie die Russisch-orthodoxe Kirche vor Putin kuscht.

Songs wie „Feel“oder „The Secret Of Happiness“klingen sehr warm und einschmeic­helnd. Wollten Sie eine Platte machen, die die Leute ein bisschen in den Arm nimmt?

Tennant: „Feel“liegt schon seit mehr als 20 Jahren rum. Wir schrieben das Stück ursprüngli­ch als Single für unser Greatest-hits-album „Popart“, das 2003 rauskam, aber wir legten es wieder zur Seite, weil es lange Zeit nicht so richtig rund war. Es wirkt wie ein Liebeslied, handelt aber davon, jemanden im Gefängnis zu besuchen, und zwar den Doppelagen­ten George Blake, der für die Russen spionierte. Später büxte er aus dem Kittchen aus und setzte sich nach Moskau ab, wo er fast 100 Jahre alt wurde.

Das poppige „Dancing Star“handelt auch von einer realen Person, oder?

Tennant:ja, von dem berühmten sibirische­n Balletttän­zer Rudolf Nurejew. Chris meint, das wird ein Strandhit. Ich habe eine Dokumentat­ion über ihn gesehen und mochte es, wie sehr er nach der Freiheit strebte und das restriktiv­e Leben in seinem Heimatland hasste. Nurejew war ein superfaszi­nierender Kerl, er dirigierte noch an der Metropolit­an Opera in New York, als er bereits dabei war, an Aids zu sterben. Ich bewundere seine Stärke und seinen Trotz. Nur ein Detail im Song ist inkorrekt. Er sprang nicht im Pariser Flughafen Orly über die Absperrung­en, um Russland zu entkommen und in Frankreich Asyl zu beantragen, sondern in Le Bourget.

Sie haben eine Wohnung in Berlin. Ist „The Schlager Hit Parade“vom Leben an Ihrem Zweitwohns­itz geprägt? Neil, Sie singen unter anderem die schönen deutschen Worte „Glühwein, Wurst und Sauerkraut“.

Lowe: Wir sind von Schlagermu­sik sehr fasziniert. Einfach, weil das etwas ist, das ihr Deutschen habt und wir nicht.

Tennant: In der Nähe unseres Berliner Apartments gibt es eine Bar, wo sie gerne Schlager spielen. Wir gehen manchmal dorthin, hören dieser irgendwie lächerlich­en Musik zu und genießen sie.

Haben Sie Lieblingss­chlagersän­ger?

Lowe: Die Flippers. Ich habe mal ein ganzes Tv-konzert mit denen gesehen. Die Musik ist sehr gut produziert. Viele Schlagerso­ngs entstehen ja in den Hansa Studios, wo wir vor fünf Jahren unser Album „Hotspot“aufgenomme­n haben. Der Ort ist berühmt für Bowie und Depeche Mode, aber ich wäre nicht überrascht, wenn die Flippers auch schon dort waren.

Tennant: Auf einer tieferen Ebene erkunden wir in dem Song, warum dieses Phänomen namens Schlager überhaupt entstehen konnte. Meine These ist, dass die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch nach vorn und nicht zurückscha­uen wollten. Diese Musik ist quasi der Soundtrack zum Wirtschaft­swunder.

Erlauben Sie sich auf „nonetheles­s“mehr Rückschau und Wehmut als sonst?

Tennant: Vielleicht ein wenig. Diese Songs kommen von zwei älteren Herren und reflektier­en deren Sicht aufs Leben. Gedanken wie „War dein Leben gut?“oder „Hat dir was gefehlt?“schleichen sich heute sicherlich öfter ein als vor 20 oder 30 Jahren.

Interessie­ren Sie sich für neue Musik?

Tennant: Doch. Mein Auto ist Baujahr 2000, also alt genug, um einen Cd-player zu haben. Ich kaufe mir gern CDS und höre sie dann dort. Ich will Bescheid wissen, wie die neuen Alben von Taylor Swift oder Dua Lipa klingen. Ich mag auch Bands wie The National oder The 1975, gerade erst habe ich das Box-set von Joni Mitchell im Auto durchgehör­t, großartig. Ich höre aber auch sehr gern Klassik, am liebsten Strawinsky oder Mahler.

Lowe: In meinem Auto habe ich sogar noch einen Kassettens­pieler. Der Wagen ist aus den frühen oder mittleren Neunzigern. Ich will ihn so lange fahren, wie ich lebe.

In der Rockmusik kommen viele der erfolgreic­hsten Musiker aus Ihrer Generation. Pop war lange was für junge Leute, aber auch das ändert sich. Spielt das Alter in der Popmusik noch eine Rolle?

Tennant: Ich denke nein. Der Pop ist sehr gut darin, zu akzeptiere­n, wer du bist. Ich finde es wichtig und richtig, dass die Altersdisk­riminierun­g in der Musik insgesamt stark nachgelass­en hat. Die Rolling Stones und Paul Mccartney sind 80 und erfolgreic­h wie eh und je. Wir bewegen uns auf der Bühne glückliche­rweise sehr viel weniger als Mick Jagger, aber auch uns hält dieses Leben jung und munter.

„Ihr Deutschen seid andauernd und fast überall nackt, oder übertreibe ich da?“Chris Lowe, Musiker der Pet Shop Boys

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Foto: Alasdair Mclellan

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