Neue Westfälische - Paderborner Kreiszeitung
Zu Besuch im Bap-viertel
Südstadt-dylan – so nannten die Kölner Wolfgang Niedecken früher, weil er seinem amerikanischen Idol auf Kölsch nacheiferte – ein Spaziergang zum Elternhaus des Sängers und zu Orten, die Bap-songs geprägt haben
Köln. In dem Eckhaus, in dem Wolfgang Niedecken aufgewachsen ist, befindet sich heute ein Reisebüro. „Das ist der heilige Severin“, sagt der Bapsänger und deutet auf die Figur über der Tür, durch die man früher den Lebensmittelladen seines Vaters betrat. Die Niedeckens wohnten in der zweiten Etage. „Dort war das Schlafzimmer meiner Eltern, dahinter die Küche, das Wohnzimmer, das Büro und ganz hinten mein Zimmer.“Über dem Eingang an der Severinstraße 1 steht in alter Schrift „Gott schütz’ dies Haus“.
Niedecken kommt oft an den Orten seiner Kindheit vorbei, denn der 73-Jährige lebt bis heute in der Kölner Südstadt. „Ich könnte bequem zu Fuß gehen.“Doch das macht er ungern, weil seine Hündin Numa Angst vor Straßenbahnen hat. „Und vor Staubsaugern“, fügt er hinzu.
Was kommt ihm in den Sinn, wenn er wieder hier ist? Sieht er dann das Schaufenster, wie es damals war? Die Konservendosen in der Auslage? Das Milchschild an der Fassade? Erinnert er sich an den bitteren Geruch des Rohkakaos, den der Wind von der nahen Stollwerck-schokoladenfabrik herbeiwehte? Denkt er dann an seinen Vater?
„Ich denke viel an meinen Vater“, antwortet Niedecken.
„Zeitreise 81/82“, das neue Bap-album, ist ein Mitschnitt von vier Konzerten, die die Band in den Kölner Sartory Sälen gab. BAP spielten alle Songs der Alben „Für usszeschnigge!“und „Vun drinne noh drusse“sowie weitere Stücke, die in den ersten Jahren entstanden. Mit ihrer Retroshow bewirkt die Band etwas, was gerade jetzt, in Zeiten von globalisiertem Chaos und Zukunftsangst, fehlt. Die Rückbesinnung auf Bekanntes und Bewährtes erschafft ein Gefühl der Geborgenheit.
Niedecken war Ende 20, Anfang 30, als er diese Songs schrieb. Er war unverheiratet. Fünf Jahrzehnte später hat er vier erwachsene Kinder. Das bisher gelebte Leben, die Gesamtheit der Erfahrungen, auch die Lieder der Vergangenheit, so die Botschaft des Rückblicks, haben dazu beigetragen, der Mensch zu werden, der man heute ist.
Viele beschäftigen ab einem bestimmten Alter Bilanzfragen. Was habe ich aus meinen Möglichkeiten gemacht? Wie groß ist die Kluft zwischen den einstigen Träumen und der jetzigen Realität? Dass es anders kommen kann als geplant, dafür ist Niedeckens Werdegang der beste Beweis. Denn eigentlich wollte er nicht Sänger und Songwriter, sondern bildender Künstler werden.
Wir gehen an den damaligen Kölner Werkschulen vorbei, wo er freie Malerei studierte. „Du fragst mich, wann ich zuletzt ein Bild gemalt habe. Ob mir ein Lied jetzt reicht. Ob ich jetzt da bin, wo ich hinwollte“, heißt es im BAP-HIT „Verdamp lang her“. „Verdammt lang her, dass ich an deinem Grab war. Verdammt lang her, dass wir miteinander geredet haben.“
Mit diesem imaginären Gespräch verarbeitete Niedecken das Schweigen, das zwischen ihm und seinem Vater Josef zuletzt herrschte. „Diese sprachlose Phase hätte längst vorbei sein können“, sagt Niedecken. Der Vater verstand nicht, anders als seine Mutter Hubertine, dass er Kunst studierte. „Er kann doch nicht vom Malen leben. Was soll denn das werden?“Als Niedecken BAP gründete, sagte der Vater nur: „Das auch noch.“
„Er hat mir nie Vorwürfe gemacht“, erzählt der Sohn. „Er hat sich nur Sorgen geerst macht, und ich konnte die Sorgen nicht zerstreuen. Ich habe es einfach nicht geschafft.“
Plagen ihn deshalb Schuldgefühle? Bereut er, dass er ein klärendes Gespräch nie gesucht hat?
Dass er als 16-Jähriger seinem Vater vorgeworfen hat, Nsdap-mitglied gewesen zu sein, „diese Selbstgerechtigkeit steht dem jungen Mann zu“, antwortet Niedecken. Doch im Nachhinein frage er sich trotzdem: „Warum musste ich zu diesem herzensguten Mann so hart sein?“Er spricht von „Gewissensbissen ohne Ende“, sagt aber auch: „Ich musste damals wohl hart sein, um mich selbst zu finden.“
Der Vater starb 1980. Die Jahre 81/82, als BAP bundesweit durchstarteten, erlebte er nicht mehr. „Es wäre besser gewesen, wenn er ein, zwei Jahre später gestorben wäre“, sagt Niedecken. „Dann wäre er beruhigt gestorben.“
Das Chlodwig-eck gibt es noch immer. In der Kneipe begegnete Niedecken dem Obdachlosen, der ihn zu dem Lied „Jupp“inspirierte. Jupp war im Krieg. Jeden Tag ist er an der Severinstorburg, dem alten Stadttor auf dem Chlodwigplatz, anzutreffen. Dort redet er sich Verzweiflung und Angst von der Seele, indem er Geschichten erfindet. Jupp erzählt vom „karierten Zebra“– nur von Stalingrad erzählt er nie. Für die meisten ist der Stalingrad-überlebende, der nicht mehr in ein strukturiertes Leben zurückfindet, einfach nur ein Lambrusco-penner. Niedecken beschreibt ihn mit aufrichtigem Mitgefühl. Der Titel macht deutlich, wie stark er sich beim Schreiben seiner Songs an Bob Dylan orientierte.
Der 73-jährige Niedecken, der als Kind in Kriegstrümmern spielte, hat den Kriegsdienst verweigert und stattdessen Essen auf Rädern ausgeliefert. Die Zeiten haben sich geändert – und folglich manche Ansichten. Mit „ein bisschen Peace“könne man keine Kriegstreiber wie Putin stoppen, sagte Niedecken in den Sartory Sälen, bevor die Band den Song „Zehnter Juni“spielte, mit dem sie sich einst gegen das Wettrüsten stellte. Reisen in Bürgerkriegsländer haben den Musiker vom Pazifisten zum Realisten werden lassen. In Nicaragua gab er 1987 Konzerte. In Uganda unterstützt er ein Projekt zur Resozialisierung früherer Kindersoldaten.
Würde Niedecken heute genauso wie damals den Kriegsdienst verweigern? „Ja, weil ich kein Soldat sein kann“, sagt er. „Ich bin nicht dafür geschaffen, um zu kämpfen. Ich würde mich an anderer Stelle nützlicher machen können.“
„Ich musste damals wohl hart sein, um mich selbst zu finden.“ Wolfgang Niedecken, Sänger, über die Beziehung zu seinem Vater