Neue Westfälische - Paderborner Kreiszeitung
Vermissen Sie es, selbst zu fliegen, Reinhard Mey?
Im Interview spricht der 81-jährige Sänger über sein neues Album, die Hoffnung in furchterregenden Zeiten – und wie er sich an den Kunstflügen der Vögel in seinem Garten erfreut
Herr Mey, in Ihrem Lied „Lagebericht“malen Sie den Zustand der Welt am 21. Dezember 2042, Ihrem 100. Geburtstag, in dunkelsten Farben. Haben Sie die Hoffnung verloren?
Nein, ganz im Gegenteil, ich versuche allein, das Augenmerk auf die lauernde Gefahr zu lenken. Und je drastischer ich sie an die Wand male, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie erkannt wird. Es ging mir mit der düsteren Voraussage um die Schilderung eines Brueghelschen Infernos, das wir erleben werden, wenn wir der mutwilligen Zerstörung unseres Heimatplaneten nicht Einhalt gebieten. Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass wir uns doch noch beizeiten besinnen und ich an meinem 100. Geburtstag in einem verschneiten Wald tief durchatmen und eine Handvoll eisigen, klaren Wassers aus der sprudelnden Felsquelle schöpfen und auf die Zukunft trinken kann.
Was macht Ihnen Hoffnung? Dass es immer wieder Menschen gibt, besonders die jungen, die sich für eine „bessere Welt“engagieren, die sich mit Leidenschaft für verschiedene Projekte einsetzen, die forschen, die mahnen, die etwas ändern wollen, vielleicht nicht immer mit den Mitteln, die ich für geeignet halte, aber das steht auf einem anderen Blatt. Im Privaten machen mir unsere Kinder, unsere beiden wunderbaren Enkel, sieben und zwölf Jahre alt, Hoffnung. Es ist eine große Freude und Motivation für mich, sie aufwachsen zu sehen, an ihrem Leben teilzuhaben, mich mit ihnen über Gott und die Welt unterhalten zu können und ihren Ansichten und Meinungen zu allem, was um sie herum geschieht, zuzuhören und verblüfft festzustellen, welche klugen Gedanken sie sich schon zu den Themen unserer Zeit und ihrer Zukunft machen.
Gibt es diesen Tisch aus dem Lied „Der Tisch steht nicht zum Verkauf“in Wirklichkeit, ein Tisch, der als Zeuge des Lebens, der Süße und der Bitterkeit, auch der Vergänglichkeit fungiert?
Ja, den Tisch gibt es, und all die Geschichten um den Tisch herum gibt es auch, und all die Menschen, die an und um ihn herumsaßen, gab und gibt es. Er steht im Herzen unseres Hauses, dem Platz, an dem wir zusammenkommen zum Essen, Trinken und Erzählen, und es vergeht in Wirklichkeit kein Mahl, ohne dass ich mit der Hand über das dunkel gemaserte, in Jahrhunderten blank gewischte Holz streiche und in Demut an all die denke, die vor mir an meinem Platz saßen, und bin dankbar für Speis und Trank und dafür, dass dieses Kunstwerk für meine Lebensspanne mir geliehen ist.
Ihr Album heißt „Nach Haus“. Ich könnte mir vorstellen, dass Sie damit das Heimweh meinen, das Sie in dem Lied „Das Raunen der Bäume“beschreiben.
Ich bin in meinem Leben viel herumgekommen und habe mir neugierig, wissbegierig und ziemlich mutig die Welt erwandert, als kleiner Junge allein Frankreich, als Jugendlicher allein mit dem Fahrrad und dem Moped den Rest von Europa, und mein Leben als Liedermacher bestand aus Reisen. Ich habe alle Wege, Straßen und Autobahnen geliebt, die mich in die Ferne zu Neuem führten, aber die liebsten waren mir die Pfade, die mich nach Hause brachten. Das Schönste an all meinen Reisen war aber der Augenblick des Heimkommens.
„Du kannst fliegen“wirkt wie die Vorgeschichte zu „Über den Wolken“. Sie sind der Siebenjährige, der auf dem Trümmerberg die Flugzeuge bestaunt. Woran erinnern Sie sich?
Die Geschichte beginnt mit der Luftbrücke 1948. Ich hörte die tief dröhnenden Motoren der Flugzeuge über uns, die mir riesig schienen, ich wollte sie aus der Nähe sehen, am liebsten hätte ich sie berührt. Ich hatte eine wunderbare Tante, die mir jeden Wunsch von den Augen ablesen konnte und ihn erfüllte, wann immer sie die Möglichkeit dazu fand. Sie begleitete mich nach Tempelhof und hielt klaglos stundenlang an meiner
Seite aus, während ich fasziniert den Dakotas und den Skymasters zusah, die im Dreiminutentakt starteten und landeten. Im Fenster eines Speditionsbüros am U-bahnhof Tempelhof stand ein hölzernes Modell einer DC3, nach den Stunden auf dem Trümmerberg blieb ich immer noch sehnsuchtsvoll vor dieser Dakota stehen. Meine Tante bot all ihre Überzeugungskraft und sicher ein Tauschobjekt vom Schwarzmarkt auf und schwatzte der Spedition das Flugzeug ab. Eine DC3 zum Anfassen, zum Streicheln, sie war das liebste Spielzeug meiner Kindheit. Noch heute muss ich, wenn ich in ein Flugzeug steige, mit der Hand über die Aluminiumhaut streichen.
Fliegen Sie noch selbst?
Seit dem letzten Eintrag im Flugbuch vom 28. Mai 2014 nur noch ohne Flugzeug ... Wir sollten die Dinge der Jugend mit Grazie loslassen. Heute sehe ich voller Bewunderung dem Eichelhäher in meinem Garten zu, der sich graziös von einem Zweig zum anderen aufschwingt, dem Gartenrotschwanz, der wie ein Drehflügler vor dem Vogelhäuschen
„hovern“, in der Luft stillstehen, kann. Ich habe das Glück gehabt, beim Weltmeister Manfred Strößenreuther den Kunstflug zu erlernen, aber wenn ich sehe, wie in vollendet schöner Flugbahn die Saatkrähe wie ein Pfeil sicher durchs dichteste Geäst schießt und punktgenau auf meiner Vogeltränke landet, sag ich mir: Reinhard, lass gut sein.
Mit dem Lied „Verschollen“bekräftigen Sie Ihre pazifistische Haltung. Wie beurteilen Sie das neue Aufrüsten?
Ich hätte nie gedacht, dass ich noch erlebe, dass sich die Zeiten einmal so dramatisch ändern würden. Es ist eine Tragödie, die da über die Welt hereinbricht. Ich bin selbst im Krieg geboren, und selbst wenn ich klein und scheinbar ahnungslos war, sind mir Ängste und Schrecken bewusst geworden und die Bilder der letzten Kriegs- und Nachkriegstage mit ihren Zerstörungen, den Kriegsversehrten und Verletzten, der Erfahrung von Hunger, Verzweiflung und Not ins Gedächtnis gebrannt. Und mit den Bildern, die das Fernsehen und die Zeitungen in unser Haus tragen, leben die Erinnerungen wieder auf, da brauche ich nicht viel Fantasie, um mich in die Not der Menschen hineinzuversetzen. Die Bilder zerreißen mir das Herz.
Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen der gewaltige Stimmungswandel in Deutschland nicht behagt. Doch was soll man tun, um sich gegen Aggressoren wie Putin zu wehren?
Ich weiß es nicht. Ich glaube, die Bevölkerung Russlands muss sich gegen den Krieg wehren, Widerstand leisten, der Widerstand muss von innen heraus kommen, nur das russische Volk selbst kann seinen mörderischen Kriegsherrn und seine Macht ins Wanken bringen.
„Lieber mit den Wolken jagen, statt sich mit der Zeit zu plagen“, heißt es in dem Lied „Schlendern“. Gelingt Ihnen das in diesen Zeiten?
Das ist eine Zeile meines Freundes Konstantin Wecker. Sein Lied spricht mir aus der Seele und weckt die Sehnsucht nach Stille, nach Gelassenheit, Entschleunigung, und da sind wir wieder bei der Muße, dem kostbarsten Besitz von allen. Wo? Ach, ich sitze gern „einfach nur so da“, sehe in den Himmel über mir und schlendere in Gedanken an all den Plätzen, an denen ich in meinem Leben war, über die Bernauer Straße, die Rue Dauphine, durch den Park von Sanssouci, am Griesheimer Mainufer, durch die Uffizien oder über den Sisowat Quai. Und mit einem Gläschen dunklem Rum in der Rechten reicht meine Fantasie auch bis zum Eyjafjallajökull, zu den sanften Tälern von Kathmandu und der Hafenmole von Papeete.
„Wir sollten die Dinge der Jugend mit Grazie loslassen.“
„Das Schönste an all meinen Reisen war aber der Augenblick des Heimkommens.“
Das Gespräch führte Mathias Begalke