Neue Westfälische - Tageblatt für Schloß Holte-Stukenbrock
Scheinheilige Bestürzung
Jedes fünfte Kind in Deutschland ist von Armut betroffen. Und nun werden wieder die Köpfe geschüttelt und die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Dabei ist diese Bestürzung genauso scheinheilig, wie die Situation und vor allem ihr Umgang damit beschämend.
Wir wissen doch längst, dass Kinderarmut in Deutschland ein wachsendes Problem ist – seit Jahren. Und schon 2022 kündigte der Kinderschutzbund die Zahlen an, über die jetzt alle so entsetzt sind. Wir wissen zudem auch, was Armut mit Kindern macht. Dass sie ihnen nicht nur Hunger, Kälte, Krankheit und Scham beschert, sondern auch jegliche Chancen nimmt, sich eine gute Zukunft zu sichern. Und wir wissen drittens sehr genau, was uns diese Armut kosten wird: 110 bis 120 Milliarden Euro im Jahr, hat das Institut für Wirtschaftsforschung im vergangenen Jahr ausgerechnet.
Was ist nun vor dem Hintergrund all diesen Wissens passiert? Eine von unwürdigem politischem Machtgerangel begleitete, hoch umstrittene Reform wie die Kindergrundsicherung. Die erst im kommenden Jahr eingeführt wird und die sich den Vorwurf gefallen lassen muss, dass sie zum einen gnadenlos unterfinanziert ist und zum anderen nicht bewirken wird, was sie soll: Kinderarmut im Kern bekämpfen.
Hinzu kommt der politisch bewusst in Kauf genommene Niedergang der gesamten Betreuungsund Bildungslandschaft in Deutschland. Dabei sind qualitative und professionelle Angebote für die Entwicklung und Förderung von Kindern und Jugendlichen so wichtig wie nie – auch, weil beides zunehmend nicht mehr im Elternhaus stattfindet. Statt hier aber reinzubuttern, wo und was geht, wird ausgehöhlt und kaputtgespart. Auch das ist Kinderarmut. Die bekämpfen wir nicht, wir machen sie chronisch. Aber auch daswissenwireigentlichlängst. anneke.quasdorf@ ihr-kommentar.de
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