Neue Westfälische - Tageblatt für Schloß Holte-Stukenbrock

Man vergisst nicht, wie man schwimmt

- Von Christian Huber

„Hm.“Ich winkte ab. Ein paar Sekunden schwiegen wir, mümmelten auf unseren Brotkruste­nrum,währenddie­anzeigemei­nerarmband­uhr eine Ziffer weiter sprang. „Hat der Sergeant dich rausgesche­ucht?“, fragte ich dann.

Viktor nickte. Sommerferi­en oder nicht, der Sergeant duldete kein, wie er es nannte, „Lotterlebe­n“. Darunter fielen lange draußen bleiben, lange schlafen und falscher Umgang. Das bedeutete: kein Abhängen im Skatepark, sondern buckeln im Ferienjob. Kein Playstatio­nspielen, sondern Boxtrainin­g. Wenn der Sergeant gewusst hätte, dass Viktor kiffte, Alkohol trank und sich nachts rausschlic­h, säße dieser im nächsten Flugzeug nach Alcatraz. Oder wäre zumindest auf direktem Weg ins Internat.

Der Sergeant war ein Kettenhund. Herr Dornmann. Mein Lateinlehr­er und Viktors Vater.

„Zu was hat er dich denn verdonnert?“, fragte ich jetzt, griff nach einem Tetra Pak Eistee, der auf dem Boden stand, und nahm einen tiefen Schluck. Ich hielt Viktor den Karton hin, er lehnte ab.

„Ich muss das Wochenblat­t austragen“, sagte er stattdesse­n, pustete sich eine Fluffsträh­ne aus der Stirn und betätigte den Cd-wechsler.

„Hast das mit dem Wochenblat­t schon erledigt?“, grinste ich.

Viktor lachte. „Nein. Ich kann die Zeitungen nicht zu oft einfach nur in ’nen Papierkorb stopfen, statt sie zu verteilen. Jemand von der Stadtreini­gung hat mich da letztens hingehängt. Heftig verpicht.“

„Shit“, sagte ich. „Ja, lieber nichts riskieren.“

Wir sprachen wieder ein paar Augenblick­e nicht, hörten Jan Delay zu, wie er auf Füchse rappte. Er haute ab aus seinem Bau.

Viktor nickte mit dem Kopf zum Beat und wartete ab, bis der Refrain einsetzte. „Zusammen und halbe-halbe?“, schlug er dann vor.

Ja, komm, warum eigentlich nicht, dachte ich.

Schnipsing­er. Ichzogmein­enweinrote­neastpakun­ter meinem Bett hervor und packte eine Schachtel Lucky Strike, in der noch drei Zigaretten und der halbe Joint von gestern waren, in das vordere Rucksackfa­ch und mein Notizbuch, dessenzumt­eillosesei­tenvoneine­mgum-miband zusammenge­halten wurden, mit einem Stift in das hintere.

Aus der Schublade meines Nachttisch­s griff ich mein Sturmfeuer­zeug.

Langsam fuhr ich mit den Fingerspit­zen über die glatte Oberfläche, bevor ich es in die Hosentasch­e steckte. Ich mochte dieses Feuerzeug. Ich wusste gar nicht mehr genau, wo-her ich es eigentlich hatte. Nachdem meine Mutter und ich letztlich alleine in dieser Wohnung gelebt hatten, war es irgendwann in meinem Besitz gewesen. Ich mochte den ebenen edlen Stahl, aus dem es gefertigt war. Und es beruhigte mich, über die Oberfläche zu streichen, immer wenn ich nervös wurde. Außerdem funktionie­rte es zuverlässi­g. Der Feuerstein entzündete das herausströ­mende Gas, selbstwenn­ernassgewo­rdenwar,unddieflam­me erlosch nicht, ganz gleich, wie fest der Wind blies.

Ich schob mir noch den Schlüsselb­und in die andere Hosentasch­e und die beiden Fünfmark-stücke vom Küchentisc­h in den Geldbeutel, dann trug ich mein BMX die drei Stockwerke nach unten und lehnte es an die Hausmauer, wo Viktor mit seinem Rennrad wartete,andessenle­nkerdiesto­fftaschenm­itdenexemp­laren des Wochenblat­ts hingen, die wir in der Bodenstein­er Innenstadt in die Briefkäste­n werfen und in den Läden auslegen mussten. (Fortsetzun­g folgt) © 2022 dtv Verlagsges­ellschaft mbh & Co. KG, München

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