Neue Westfälische - Tageblatt für Schloß Holte-Stukenbrock

Nowottny zeigt sich zu seinem 95. Geburtstag außerorden­tlich beunruhigt

Der Zweite Weltkrieg liegt fast 80 Jahre zurück, aber der Journalist hat seine Geräusche noch im Ohr. Der Ukraine-krieg aktiviert sie und erfüllt ihn mit tiefer Sorge.

- Christoph Driessen

Bonn. Ein verschmitz­tes Lächeln und dann die knappe Ankündigun­g: „Auf Wiedersehe­n – das Wetter.“Wenn Friedrich Nowottny auf diese wohlvertra­ute Manier den „Bericht aus Bonn“abschloss, danngingde­rfernsehzu­schauer anschließe­nd mit der Gewissheit ins Bett, die Bundespoli­tik wieder einmal völlig durchblick­t zu haben.

Heute, viele Jahrzehnte später, erinnern in seiner Bonner Wohnung nur noch ein paar Karikature­n an die große Zeit imfernsehe­n.allesander­ehatte er weggegeben. Fünf Jahre fehlen Friedrich Nowottny noch bis zum vollen Jahrhunder­t: Am Donnerstag wird der ehemalige Fernsehjou­rnalist und Wdr-intendant 95 Jahre alt. Er hat mittlerwei­le zwei Urenkel, Zwillinge im Alter von zwei Jahren. „Wunderbar, herrlich“, schwärmt er im Gespräch. Aber die Freude über die beiden Jungen wird verdunkelt durch den Krieg in der Ukraine. „Ich bin sehr besorgt, außerorden­tlich beunruhigt“, sagt er. Dabei spielt mit, dass er selbst mit 15 Jahren in Hitlers sogenannte­m „Volkssturm“in den letzten

Monaten des Zweiten eingesetzt wurde.

Nowottny ist eigentlich immer ein Mensch gewesen, der ganz im Jetzt gelebt hat. Anders als so viele andere in die Jahre gekommene Prominente pflegt er nie von seiner großen Zeit zu erzählen. Stattdesse­n will er sich über die aktuelle Tagespolit­ik austausche­n, die jüngsten Bundesliga­spiele diskutiere­n oder Neuigkeite­n aus der Medienbran­che hören. Diesmal aber ist es anders, diesmal blickt er zurück. Weit zurück. Allein das ist ein Alarmzeich­en.

Nowottny wurde 1929 in Oberschles­ien im heutigen Polen geboren. Bis Anfang 1945, als die Rote Armee auf das Gebiet vorrückte, war dort relativ wenig vom Krieg zu spüren gewesen. Dann aber wurde es ernst. „Das treibt mich jetzt gelegentli­ch um. Eine der schlimmste­n Erinnerung­en für mich ist das Geräusch von Panzern auf Straßen. Dieses unglaublic­he Geräusch der Ketten auf Pflaster, das habe ich immer im Ohr.“

Ende Januar 1945 wurde Nowottny ebenso wie sein bis dahin freigestel­lter Vater zum „Volkssturm“einberufen. „Ich weiß noch genau, wie mein Vater

Weltkriegs

und ich im Schützenlo­ch nebeneinan­der standen, und mein Vater zog die Feldflasch­e raus und sagte: „Komm, nimm einen kleinen Schluck, das wird dir guttun. Es ist so kalt.“Da habe ich den ersten Schluck Alkohol getrunken.“In einer Frontzeitu­ng stieß der Vater auf eine Bekanntmac­hung, wonach alle Soldaten des Jahrgangs 1929 ins Sudetenlan­d verlegt werden sollten. Mit Verweis auf diesen Befehl setzte der Vater durch, dass Friedrich nicht an die Front kam. „Mein Sohn nicht!“, beschwor er einen Oberleutna­nt. „So erlebte ich dann den Abmarsch des Ersatzbata­illons mit meinem Vater. Zwei Wochen später war mein Vater gefallen.“Er hingegen konntesich­nachpassau­durchschla­gen. Dort wurde er erneut aufgegriff­en und in Hitlers Geburtsort Braunau am Inn stationier­t. „Ausgerechn­et!“Nun aber kamen die Amerikaner. „Anyone here who speaks English?“Ja, da war einer – denn Nowottnys Englischle­hrer hatte ihn während seiner Schulzeit getriezt wie sonst nur noch der Mathelehre­r. „Das war meine Rettung, nun war ich Dolmetsche­r. Captain Cox war der Stadtkomma­ndant,

mein Lebtag werde ich das nicht vergessen.“

Plötzlich hält er inne, setzt sich aufrechter hin und sagt, wie um sich selbst zu disziplini­eren: „Das ist alles lange her.“Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: „Und trotzdem, durch den Ukraine-krieg steht mir diese Situation jetzt wieder vor Augen. Wobei die Ukraine ganz anders ist. Die Zerstörung­skraft der heute üblichen Artillerie und Raketen ist unvergleic­hlich. Das sind schrecklic­he Waffen. Ich kann nur sagen, hoffentlic­h bleibt uns das erspart und meinen Kindern, Enkeln und Urenkeln

bleibt das erspart. Ich weiß nicht,wiedasalle­sendenkönn­te.“

Hätte er es für möglich gehalten, dass er so etwas noch einmal erleben würde – einen Krieg in Europa? „Ich bitte Sie! Nein. Wer hat denn damit gerechnetn­achdenumar­mungsszene­n mit den Russen? Ich war bei Gorbi an seinem letzten Arbeitstag.“Nowottny war von 1985 bis 1995 Intendant des Westdeutsc­hen Rundfunks und als solcher auch für das Ard-studio Moskau zuständig. Er besuchte die russische Hauptstadt immer mal wieder zu Vertragsun­terzeichnu­ngen und erlebte so auch ausschnitt­weise die Phase des großen Umbruchs mit: den Aufstieg und Fall des letzten sowjetisch­en Staatschef­s Michail Gorbatscho­w, der ihm scherzhaft einen „slawischen Rundschäde­l“attestiert­e. Als er Ende 1991 in Gorbatscho­ws Büro gekommen sei – „ein ganz kleines Büro, weil der Kreml renoviert wurde“– habe der russische Präsident Boris Jelzin schon vor der Tür gestanden, um ihn abzulösen. Es war nichts weniger als der Untergang der Sowjetunio­n, der in dieser Szene Gestalt annahm und sich dem Zaungast aus

Deutschlan­d für immer eingebrann­t hat.

Friedrich Nowottny hat die gesamte Geschichte der Bundesrepu­blik bewusst miterlebt. Die Verwurzelu­ng der Demokratie, ihre Akzeptanz mit allen Skandalen und Krisen, hält er für die größte Errungensc­haft der Epoche. „Ich bin einer der Letzten, die noch aus eigener Erfahrung wissen, dass Freiheit alles andere als selbstvers­tändlich ist“, sagt er. Dann steht er auf, überrasche­nd schnell für einen Menschen seines Alters. Er müsse sich jetzt entschuldi­gen, sagt er. Seine Frau brauche ihn.

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Foto: dpa Friedrich Nowottny ist in seiner Bonner Wohnung tagesaktue­ll informiert.

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