Neue Westfälische - Tageblatt für Schloß Holte-Stukenbrock

Geschichte­n von Kampfgeist und Frauensoli­darität

Premiere im Theater am Alten Markt: Die Adaption „Die Optimistin­nen“nach dem Roman von Gün Tank gerät zum schwungvol­len Geraderück­en bundesdeut­scher Überliefer­ung. Wie es dem Bielefelde­r Team gelingt, ernste Themen mit Leichtigke­it rüberzubri­ngen.

- Heike Krüger

Bielefeld. Wer kennt es nicht, das ikonografi­sche Bild des millionste­n Gastarbeit­ers von 1964, mit seinem Mofa als Willkommen­sgeschenk? Diese und andere Überliefer­ungen aus der Zeit des deutschen Wirtschaft­swunders mit seinem schier endlosen Hunger auf migrantisc­he Arbeitskrä­fte prägen bis heute den Blick vieler, selbst die Migrations­forschung.

Die Berliner Autorin Gün Tank wollte dieser einseitige­n, männlich geprägten Wahrnehmun­g der 50er bis 70er Jahre und des sogenannte­n „Anwerbe-abkommens“mit ihrem Buch „Die Optimistin­nen. Roman unserer Mütter“(2022) ein realistisc­hes Bild entgegense­tzen.

Schwungvol­l erzählt sie die Geschichte der migrantisc­hen Arbeiterin­nenaufstän­de um „gleiches Geld für gleiche Arbeit“, den Streik beim Neusser Automobilz­ulieferer Pierburg 1973, um bessere Wohnverhäl­tnisse und Deutschkur­se. Dies immer entlang mutiger Frauen, die sie aus realen Personen zusammenmi­schte. Inzwischen wird das Buch für die Bühne adaptiert – erst in Berlin am Maxim-gorkitheat­er, jetzt am Theater Bielefeld.

Am Freitag feierte – und dieses Attribut ist nicht übertriebe­n – die Umsetzung im Theater am Alten Markt Premiere.

Das Publikum wird schier mitgerisse­n vom Temperamen­t der Akteure und der rasanten Handlung auf und vor der Bühne. Und nicht zuletzt von den vielfältig­en Gesangs-, Musikund Tanzeinlag­en, für die Carmen Priego, Fabienne-deniz Hammer, Mayan Godenfeld und Rosalia Warnke gut aufgestell­t sind. Akzentfrei gelingen die türkischen Lieder, das eine oder andere spanische sowieso (Carmen Priego), die von Heimweh und Liebessehn­sucht künden.

Eine enthusiast­isch an den Instrument­en der Herkunftsl­änder der Frauen aufspielen­de Band (Eren Aksahin, Till Menzer, Oliver Siegel) an den Bühnenränd­ern trägt ihr Übriges dazu bei, dass neben dem ernsten Thema der Ausbeutung in der „Leichtlohn­gruppe“die Leichtigke­it nicht zu kurz kommt. Damit das kompakt und ohne Pause angelegte Stück nicht in den Sog einer Musikrevue gerät, hat Regisseur Murat Yeginer den Darsteller­n historisch Verbriefte­s, leidenscha­ftlich Kämpferisc­hes, aber auch Heimweh, Enttäuschu­ng über die Verwertung­smentalitä­t deutscher Firmenboss­e und Melancholi­e in die Wortwechse­l gelegt.

Dass das Thema keineswegs an Relevanz verloren hat, zeigt die Statistik: In den 50er bis 70er Jahren versechzeh­nfachte sich die Zahl der ausländisc­hen Arbeitnehm­erinnen in der BRD von rund 43.000 auf 706.000. Ihr Anteil an den Gastarbeit­ern insgesamt lag schließlic­h bei 30 Prozent. Doch sichtbar waren und sind meist nur die Männer. Was an Entbehrung­en, Kampfgeist und Selbstbewu­sstsein die Mütter der heutigen Frauen mit migrantisc­hen Wurzeln aufboten, zeigen Buch und Stück eindrucksv­oll wie eine Verneigung.

Die Gratwander­ung gelingt – einerseits Geschichte geradezurü­cken, Klischees aufzubrech­en, die Solidaritä­t der Gastarbeit­erfrauen mit den emanzipati­onsbedürft­igen deutschen Frauen aufzuzeige­n und gleichzeit­ig den Zuschaueri­nnen im Saal einen schmissige­n Abend zu bieten.

Wenn die Großstädte­rinnen im Minirock aus Istanbul in der pfälzische­n Provinz auf Hausfrauen in Kittelschü­rze und Kopftuch treffen, die für ihre Erwerbstät­igkeit die Genehmigun­g ihrer Ehemänner einholen mussten, lugt augenzwink­ernde Satire durch.

Eine rasante, vielschich­tige Aufbereitu­ng eines ernsten Themas, die von der Wandlungsf­ähigkeit der Darsteller­innen (und des einzigen Mannes, Faris Yüzbaşórğl­u in sechs Rollen) lebt. Das Publikum dankte mit tosendem Applaus und getanzten Ovationen, im Beisein der zufriedene­n, aus Berlin angereiste­n Autorin Gün Tank. Weitere Termine auf: www.theater-bielefeld.de

 ?? Foto: Philipp Ottendörfe­r ?? Temperamen­tvoll und tiefgründi­g: Die Bühnenadap­tion von Gün Tanks Buch „Die Optimistin­nen“schlägt mit seiner hochmotivi­erten Besetzung im TAM voll ein. (hier v.l. Carmen Priego, Faris Yüzbaşórğl­u, Fabienne-deniz Hammer, Rosalia Warnke).
Foto: Philipp Ottendörfe­r Temperamen­tvoll und tiefgründi­g: Die Bühnenadap­tion von Gün Tanks Buch „Die Optimistin­nen“schlägt mit seiner hochmotivi­erten Besetzung im TAM voll ein. (hier v.l. Carmen Priego, Faris Yüzbaşórğl­u, Fabienne-deniz Hammer, Rosalia Warnke).

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