Neue Westfälische - Zeitung für das Lübbecker Land
„Verlieren Kinder immer mehr an Tiktok“
Zunehmend driften Minderjährige in die Mediensucht ab. Die Nutzung ist in den vergangen Jahren stark angestiegen. Wie man die Sucht erkennt, welchen Einfluss die App hat und wie in den Schulen damit umgegangen wird.
Kreis Minden-Lübbecke . In knapp einem Monat schreibt Finn die Zentralen Prüfungen. Der 15-Jährige besucht die zehnte Klasse eines Gymnasiums aus einer Region um Minden. Eigentlich sollte er sich jetzt mehr auf die Leistungsabfrage konzentrieren oder sich Gedanken über seine Zukunft machen – das wünschen sich zumindest seine Eltern. Doch sein Alltag außerhalb der Schule sieht anders aus: Sport, Playstation, mit Freunden abhängen. Und ständig dabei: sein Handy.
Er soll zum Essen kommen – er scrollt auf seinem Handy. Er soll den Müll rausbringen – er scrollt auf seinem Handy. Er sitzt im Bus auf dem Weg zur Schule – er scrollt auf seinem Handy. Die Videoplattform Tiktok ist sein ständiger Begleiter und damit ist er nicht allein.
Laut einer aktuellen Mediensucht-Studie von DAK-Gesundheit und UKE Hamburg (Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf) nutzen knapp 25 Prozent der Minderjährigen in Deutschland die sozialen Medien riskant. Das sind hochgerechnet 1,3 Millionen Mädchen und Jungen – dreimal so viele wie im Jahr 2019. Davon erfüllen sechs Prozent der Zehn- bis 17Jährigen die Kriterien für eine bereits existente Sucht. Hochgerechnet sind dies 360.000 Kinder und Jugendliche – fast doppelt so viele wie vor vier Jahren. Eine Entwicklung, die den Experten Sorgen bereitet.
„Besonders in den Schulen macht sich das Problem immermehrbemerkbar“,sagtRegina Reichart-Corbach von der Beratungsstelle für Schul-und Familienfragen des Kreises Minden-Lübbecke. Es passiert etwas mit den Kindern, wenn sie unter Dauerbeschuss des Mediums stehen, so die Amtsleiterin. „Sie stumpfen emotional ab. Sie empfinden weniger Empathie.“Hinzu kommt die Konzentrationsfähigkeit, die mit der ständigen Nutzung immer weiter abfällt. Tiktok ist bekannt für die kurzenVideos,dieBenutzererstellen, ansehen und teilen können. Die Videos sind in der Regel zwischen 15 Sekunden und einer Minute lang und oft von Musik, Tanz, Comedy, Challenges und anderen kreativen Inhalten geprägt. Die App verwendet einen Algorithmus, um personalisierte Inhalte im Feed der Benutzer anzuzeigen. Je mehr ein Benutzer die App nutzt, desto besser lernt der Algorithmus seine Vorlieben kennen und zeigt entsprechende Videos an. Es werden immer wieder Videos nachgeliefert, es gibt kein Ende – wenn man es nicht will. „Durch den Algorithmus zeigt die App mir an, was ich sehen will. Der Botenstoff Dopamin, der glücklich macht, wird ausgeschüttet – das macht süchtig“, erklärt Reichart-Corbach.
Kinder müssen beschützt werden
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat die Computerspielsucht 2019 offiziell als Krankheit anerkannt, so Reichart-Corbach. Laut dem Bundesministerium für Gesundheit beinhaltet aber auch die Nutzung von virtuellen sozialen Netzwerken ein vergleichbares Suchtpotenzial. „Bei unserer Arbeit ist die Diagnose nicht wichtig“, sagt die Amtsleiterin, deren Beratungsstelle auch einen Bereich der Suchtberatung inne hat. „Am ehesten erkennt man Sucht aber an der zunehmenden Heimlichtuerei“, sagt sie. Betroffene fangen an zu lügen, ihr eigenes Konsumverhalten schön zu reden – und sie isolieren sich.
Kinder sollten deshalb bei der Nutzung der Tiktok-App nicht alleine gelassen werden. „Sie dürfen in allen möglichen Lebenslagen davon ausgehen, dass wir sie beschützen. Warum sollten wir an dieser Stelle kapitulieren?“, fragt Reichart-Corbach. „Wir beschäftigen uns in diesen Zeiten sehr viel mit Schutzkonzepten, analysieren, in welchen Räumen und unter welchen Umständen Kindern in unseren öffentlichen Einrichtungen etwas zustoßen könnte (was dann meistens nicht passiert), lassen aber gleichzeitig zu, dass Kinder und Jugendliche über Stunden hinweg mit brutalen, unmenschlichen Inhalten konfrontiert werden?“
Den Erziehungsberatern bleibe nur, den Eltern zu raten, diese App von vornherein zu verbieten, so wie sie es jahrelang bezogen auf OnlineRollenspiele, zum Beispiel World of Warcraft, getan haben, betont die Amtsleiterin.
Ob Finn bereits süchtig nach der App ist, kann seine Mutter nicht sagen. Sie hat es ihm bereits öfter vorgehalten, aber so richtig erforscht haben sie beide das Thema noch nicht – dafür gab es bis jetzt zu viele andere Baustellen, die es im normalen Familienalltag zu bewältigen gab. Das Thema Tiktok läuft nebenher mit. Es stört ein wenig, steht aber auf der Prioritätenliste nicht ganz oben. Denn die Mutter glaubt, dass Eltern ihre Kinder immer mehr an Tiktok verlieren würden. Sie selbst hat die App auch bis vor Kurzem noch auf ihrem Smartphone gehabt, gibt sie zu. Sie gibt aber auch zu: Mittlerweile hat sie sie gelöscht. Denn sie ertappte sich selbst dabei, wie sie die Zeit beim Scrollen vergaß – das Suchtpotenzial war zu groß. Aber ihrem Sohn, der sie um einen Kopf überragt, die Handynutzung zu verbieten, das werde keinen Sinn machen, ist sie sich sicher. Außerdem hat er einen großen Freundeskreis. Sobald sich die Möglichkeit ergibt, trifft er sich lieber mit ihnen als allein in seinem Zimmer auf sein Handy zu starren. Er hat noch ein soziales Leben, nur das mit der Aufmerksamkeit und der Schule macht ihr Sorgen.
Auch hier ist er nicht allein. „Die Konzentrationsfähigkeit der Schüler hat in den letzten Jahren spürbar nachgelassen“, weiß Katja Bensch. Bei den auffälligen Schülern sieht die Rektorin der Sekundarschule am Wiehen in Minden definitiv einen Zusammenhang zu einer exzessiven Mediennutzung. Deshalb findet sie die Entscheidung, eine handyfreie Schule geblieben zu sein, richtig. Seit 2023 teilt sich die Sekundarschule den Standort mit der Käthe-KollwitzRealschule, an der wiederum die Schüler ihre Handys in den Pausen nutzen dürfen.
Handyfrei bedeutet, dass die Sekundarschüler ihre Geräte zwar mitbringen dürfen, sie aber auf dem Schulgelände nicht benutzen dürfen, erklärt Bensch. Wird ein Schüler damit erwischt, wird das Handy bis Unterrichtsende einkassiert. Ein komplettes Handyverbot, eins, bei dem das Gerät zu Hause bleibt, lasse sich nicht realisieren, schätzt die Schulleiterin. Unter anderem würden hier die Eltern höchstwahrscheinlich nicht mitspielen. Eltern wollen, dass ihre Kinder im Notfall oder nach der Schule zum Abholen kontaktiert werden können.
BeiderMediennutzungstuft sie besonders die Tiktok-App als bedenklich ein. Deshalb bietet die Schule präventive Angebote an, um auf die Gefahren hinzuweisen, die von der App ausgehen. Neu ist auch die Mediensprechstunde der Sozialarbeiterin. Dort können Schüler sich melden, wenn sie digital gemoppt werden, wenn es um das Verschicken von Nacktbildern geht oder sie im Internet Dinge sehen, die sie nicht einordnen können. Zudem sei in Planung, demnächst einen handyfreien Tag einzuführen, so die Schulleiterin.
Den Eindruck, wie gefährlich die Einflussnahme der App auf die Kinder sein kann, konnte Bensch bereits mehrfach live miterleben. Erst kürzlich hatte ein Gruppe von Schülern den „Pilotentester“in der Pause gemacht. Das ist eine TiktokChallenge,
bei dem Jugendliche bestimmte Atemtechniken nutzen, um ohnmächtig zu werden. Ein Junge aus der Gruppe hatte Asthma und begab sich damit in eine gefährliche Situation, erklärt Bensch. Sie musste ihn nach Hause schicken.
Bei einem weiteren Vorfall musste sie den Krankenwagen rufen. Eine Schülerin hatte an der Hot-Chip-Challenge, bei der Menschen einen extrem scharf gewürzten Tortilla-Chip verzehren, teilgenommen. Sie befand sich in einem desolaten Zustand, trug aber keine ernsthaften Schäden davon, erinnert sich die Schulleiterin.
Ein mögliches europaweites Tiktok-Verbot, wie es die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Ende April erwähnte, würde auch Bensch befürworten. „Grundsätzlich eine gute Idee, aber das würde auch nichts bringen“, sagt sie. Dann komme einfach die nächste App auf den Markt.
Mehr als die Hälfte der minderjährigen Nutzenden stößt auch auf beunruhigende Inhalte, zehn Prozent von ihnen mindestens täglich. Eine Inhaltsanalyse der Medienanstalt NRW hat dabei gezeigt, dass es sich mehrheitlich – bei rund 65 Prozent – der untersuchten Challenge-Videos um harmlose TikToks wie beispielsweise Tanz- oder SingVideos handelt. Rund ein Drittel der Videos zeigen jedoch potenziell schädliche und ein Prozent sogar potenziell tödliche Herausforderungen. Nach welchen Kriterien TikTok-Challenges reguliert, mit Warnhinweisen versieht oder gar löscht, bleibt jedoch vollkommen unklar. Hier fehlt jede Transparenz.
Elterninitiative fordert Handyverbot
Um die Gefahr der Handynutzung und der Sozialen Medien wissen auch viele Eltern. Deshalb hat sich die Elterninitiative „Smarter Start ab 14“gebildet. Eltern vernetzen sich an Grundschulen und fordern ein komplettes Smartphoneverbot an Grundschulen. Auf der Internetseite der Organisation ist auch ein Zusammenschluss an der Gemeinschaftsgrundschule An der Bergkante in Hille gekennzeichnet. Von der Elterninitiative hat der Schulleiter Stefan Grotthaus der Grundschule jedoch noch nichts gehört.
Was er aber sagen kann: An der Gemeinschaftsgrundschule wird eine ganz klare Linie zu der Nutzung elektronischer Geräte während der Schulzeit gefahren. Weder Smartwatch noch Handy dürfen mitgebracht werden, sagt er. Diese Regelung sei 2020 in einem Schulkonferenzbeschluss gefasst worden. Die Lehrer hatten bereits damals die Erfahrung gemacht, dass die Smartwatches im Unterricht geklingelt hätten oder die Kinder anderweitig dadurch abgelenkt waren. Diese Entscheidung seitens der Schule blieb nicht ganz ohne Widerstand.
Eltern haben seitdem immer wieder argumentiert, dass ihrem Kind die Möglichkeit gebenwollen,sieinNotfällen,wie verpasstem Schulbus oder Ähnlichem, kontaktieren zu können. „Aber dafür haben wir in der Schule auch reguläre Telefone“, so der Schulleiter. Es kommt jedoch weiterhin vereinzelt dazu, dass Schüler in der Pause ein Handy zücken. Dann wird es eingesammelt und die Eltern werden kontaktiert, so Grotthaus.