Neue Westfälische - Zeitung für das Lübbecker Land
„Höchste Eisenbahn“
Die Leibniz-Gemeinschaft in Hannover befasst sich mit der Wiederbelebung von Bahnstrecken und rät, das Streckennetz wieder zu verdichten.
Rahden. Das Land Niedersachsen will Bahnstrecken wiederbeleben. Aus einer Liste von mehreren Dutzend Strecken wurden einige Linien ausgewählt, die nun in der zweiten Runde des Prüfverfahrens untersucht werden.
Dazu gehört auch die Bahnlinie zwischen Bad Holzhausen und Bohmte. Die wird von der Verkehrsgesellschaft Landkreis Osnabrück (VLO) betrieben. Ein großer Teil der anderen Strecken, die für die zweite Runde ausgewählt wurden, gehört über die Schieneninfrastruktur Niedersachsen-Ost (SInON) dem Land Niedersachsen. Strecken im Besitz der Deutschen Bahn gehören nicht dazu – auch nicht die Strecken des Sulinger Kreuzes. Die bleiben neben vielen weiteren Strecken auf der Liste und sollen bei Gelegenheit betrachtet werden.
Zu Anfragen der Redaktion,warumdasSulingerKreuz trotz deutlicher Empfehlungen von Wissenschaftlern zur Wiederbelebung nicht berücksichtigt wurde, hatte sich die Landesnahverkehrsgesellschaft Niedersachsen (LNVG) nicht äußern wollen und auf das Verkehrsministerium in Hannover verwiesen. Zur Wiederbelebung von Bahnstrecken äußerte sich nun die Akademie für Raumentwicklung (ARL) in der Leibniz-Gemeinschaft (Hannover). Darauf verweist auch Detlef Block vom Aktionsbündnis Eisenbahnstrecke Bünde-Bassum (AEBB).
Reaktivierung „ist ein Gebot der Stunde“
Die Reaktivierung stillgelegter Schienenstrecken für den Personen- und Güterverkehr sei eine große Chance, die Verkehrswende zu unterstützen und gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland zu schaffen, merkte Detlef Block an. Vielerorts seien die alten Strecken wie die Strecken des Sulinger Kreuzes oder zumindest die Trassen noch verfügbar. Hierzu habe die ARL ein aktuelles Positionspapier vorgelegt.
Sie weise darin unter anderem darauf hin, dass eine verbindliche Sicherung der Trassen durch die Landes- und Regionalplanung
dringend erforderlich sei, um eine Überbauung auszuschließen, merkte Detlef Block an.
Das Positionspapier wurde von Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis im Rahmen des ARLArbeitskreises „Reaktivierung von Schienenstrecken als Instrument einer integrierten Raumentwicklung“der Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft erarbeitet. Es enthält zentrale Empfehlungen für die Umsetzung in der Praxis
Der Präsident der ARL, Axel Priebs, der zusammen mit dem Verkehrsplaner Volker Stölting den Arbeitskreis geleitet hat,fasstdieEmpfehlungenaus der ARL wie folgt zusammen: „Nachdem über Jahrzehnte das Streckennetz der deutschen Eisenbahnen reduziert wurde, ist es angesichts überlasteter Strecken und nicht auf der Schiene erreichbarer MittelzentrenhöchsteEisenbahn,das Netz wieder zu verdichten und Menschen in allen Teilen Deutschlands einen gut erreichbaren Zugang zum System Eisenbahn zu verschaffen“.
Das für alle Interessierten kostenlos einsehbare Positionspapier der ARL befasst sich mit zahlreichen Aspekten der Wiederbelebung von Bahnstrecken als Strategie der integrierten Raumentwicklung. Die Expertinnen und Experten der ARL kommen dabei zu einer eindeutigen Aussage: „Der Ausbau von Schienennetzen für den Personenund Güterverkehr durch die Reaktivierung stillgelegter StreckenisteinGebotderStunde!“.
Schienenstrecken ermöglichten nachhaltige Mobilität, gesellschaftliche Teilhabe und die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse,sodieARL. Hierzu bedürfe es einer grundsätzlich neuen und integrierten Ausrichtung der Raumund Verkehrsplanung. Neben der dringend gebotenen Trassensicherung durch die Raumordnung müssten stillgelegte Schienenstrecken bezüglich ihrer Potenziale für die Ortsund Regionalentwicklung erkannt und reaktiviert werden. „Stationen an Schienenstrecken können insbesondere in ländlichen Räumen wesentliche
Entwicklungsimpulse erzeugen und als Mobilitätsdrehscheibenfungieren.“Dabeigelte es, bisherige Hindernisse zu überwinden, indem beispielsweise neue volkswirtschaftliche Bewertungsmaßstäbe angesetzt und neue Finanzierungsmodelle eingeführt würden.
Die Allianz Pro Schiene und der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) haben nach Angaben der ARL eine Liste von 277 Strecken mit einer Streckenlänge von 4.573 Kilometern vorgelegt, die sie zur Reaktivierung vorschlagen, wovon 332 Städte und Gemeinden sowie 3,4 Millionen Menschen direkt profitieren würden.
So wichtig die Erkenntnis sei, dass zahlreiche Strecken gerade in den ländlichen Räumen reaktiviert werden müssten, so vielfältig sind laut ARL die Herausforderungen, vor denen die Projekte in der Praxis stünden.
In ihrem Positionspapier sieht die ARL die Reaktivierung
von Schienenstrecken nicht nur als verkehrspolitisches Ziel, sondern als Teil einer umfassenden Regionalentwicklung, als Beitrag zur Daseinsvorsorge sowie zur Stadt- und Ortsentwicklung.
Dabei ist laut ARL die Ausgangslage bei den stillgelegten Strecken sehr unterschiedlich. Während manche Strecken noch im Güterverkehr bedient würden, seien andere endgültig stillgelegt oder entwidmet.BeivielenStreckenseien Oberbau und Brücken bereits abgetragen.
Teilweise seien ehemalige Trassen auch nicht mehr oder nur teilweise reaktivierbar, weil sie nicht mehr durchgängig verfügbar seien. Außerdem ist laut ARL-Strategiepapier nicht jede stillgelegte Strecke ohne Weiteres für eine Reaktivierung geeignet, etwa wenn sie abseits der heutigen Schwerpunkte von Siedlung und Gewerbe oder der Erholungs- und Urlaubsgebiete verlaufe.
Dem Bus kommt weiterhin eine große Rolle zu
Verschiedene Studien haben laut ARL „wiederholt – auch bei gleicher Reisezeit – die höhere Nachfragewirkung von schienengebundenem gegenüber straßengebundenem ÖPNV gezeigt, im Wesentlichen bedingt durch Komfortund Imageeffekte“. Allerdings komme dem Bus weiterhin eine wichtige Rolle der Netzergänzung und Feinverteilung zu, heißt es beim ARL. „Daher sind auch intermodale Reiseketten zwischen dem schienengebundenen und dem weiteren ÖPNV, inklusive flexibler und autonomer Bedienformen, zu verbessern.“
Notwendig ist laut ARL künftig jedoch vor allem ein strategisches Gesamtkonzept für gleichwertige Erreichbarkeitsverhältnisse in allen Teilräumen Deutschlands, verkehrsträgerübergreifend und unter Beachtung der Klimaziele.
Aus diesem Konzept ergeben sich dann der entsprechende Neu- und Ausbaubedarf sowie die erforderlichen Bedienungsangebote und Fahrpläne im ÖPNV. Auf dieser Basis werde dann der erforderliche Umfang der Regionalisierungsmittel ermittelt.