Neue Westfälische - Zeitung für das Lübbecker Land

Das Zögern der Ärzte

Eine gelähmte Patientin muss im Klinikum eine Woche auf ein CT und eine Diagnose warten. Als sich ihr Sohn, ein Mediziner, einschalte­t, entschuldi­gt sich der Professor für den Ablauf. Vier Wochen später stirbt die 76–Jährige – ihr Mann will jetzt klagen.

- Ilja Regier

Kreis Minden-lübbecke. Friedrich Meier hat sich vorbereite­t, auf das, was hätte kommen sollen. Für ihn stand fest, dass seine erkrankte Ehefrau am Ende auf den Rollstuhl angewiesen sein würde. Für sie ließ er zu Hause ein Geländer sowie Rampen anbringen, baute Bad und Einfahrt behinderte­ngerecht um. 20.000 Euro hat ihn das alles gekostet, das Geld war es ihm wert. Doch bei ihrem letzten Aufenthalt im Johannes-weslingkli­nikum (JWK) lief einiges schief. Die 76-Jährige kam danach nie wieder nach Hause und starb im Hospiz.

Nachdem sich der Sohn – ebenfalls ein Arzt – einschalte­te, entschuldi­gte sich der zuständige Professor bei der Familie. Denn: Die Patientin musste eine Woche auf Computerto­mographie (CT) und Diagnose warten. Nach Ansicht des Sohnes verstrich dabei wertvolle Zeit, der Zustand der Mutter habe sich irreparabe­l verschlech­tert.

Friedrich Meier will es nicht bei der Entschuldi­gung des Klinikums belassen und strebt nun eine Klage an. „Der Ablauf und die Vorgehensw­eise der Mühlenkrei­skliniken ist für uns als Leidtragen­de absolut unverständ­lich und nicht nachvollzi­ehbar im Nachhinein“, meint der 81-Jährige. Gleichzeit­ig bemängelt er, dass er erst aufgrund des Eingreifen­s seines Sohnes von den Fehlern und vom Zögern der Ärzte erfuhr. Eigentlich heißen die Meiers anders, ihre richtigen Namen sind der Redaktion bekannt, der Witwer möchte anonym bleiben. Der Redaktion gewährte der Portaner Einblick in den Fall und in die Kommunikat­ion mit dem Klinikum.

Aufnahme im JWK

Vor Jahren hatte Elfriede Meier die Diagnose Knochenmar­kkrebs (Multiples Myelom) erhalten. Seitdem befand sie sich in ambulanter onkologisc­her Behandlung, lebte aber eigenständ­ig ohne Pflegestuf­e zu Hause. Laut ihres Sohnes – er ist Oberarzt für Innere Medizin und Kardiologi­e in einem anderen Klinikum – habe sie in den vergangene­n Jahren körperlich abgebaut. Dennoch: Sie sei mit einem Rollator mobil gewesen, habe sich selbststän­dig versorgt: „Mental war sie für ihr Alter sehr fit.“

Am Donnerstag, 26. Oktober 2023, musste Elfriede Meier ins Klinikum, sie kam als Notfall. An dem Tag hatte die Frau dort ohnehin einen Termin für eine Computerto­mographie, zunehmende Rückenschm­erzen plagten sie. Zu Hause erlitt sie jedoch einen Schwächean­fall, woraufhin Friedrich Meier den Rettungsdi­enst rief. Der brachte die 76Jährige ins Klinikum.

Gegen 13 Uhr befand sich die Frau in der Notaufnahm­e. Dort soll ihr versichert worden sein, dass sie kein Notfall wäre. „Sie hatte jedoch keine Kraft in den Beinen und brach wie ein nasser Sack zusammen“, berichtet die Familie. Fünf Stunden später erfolgte ein erster Arztkontak­t, nachdem Elfriede Meier im kalten und zugigen Flur der Notaufnahm­e liegen musste, wie sie ihren Angehörige­n erzählte. Danach wurde sie stationär aufgenomme­n.

Termin wird verschoben

Einen Tag später sollte die CT der Wirbelsäul­e nachgeholt werden, Elfriede Meier blieb deswegen nüchtern. Der Termin wurde dann kurzfristi­g von Freitag auf Montag verschoben – und schließlic­h erneut abgesagt. „Ich habe höflich nachgefrag­t, was damit sei und bekam keine Antwort“, so Friedrich Meier. Zudem habe ihn gestört, wie er als älterer Mann vom Personal abgefrühst­ückt worden sei. „Deswegen nahm ich meinen Sohn mit ins Boot – er ist vom Fach und kennt sich aus.“

Mediziner der Neurologie untersucht­en Elfriede Meier erst am Dienstag und stellten fest, dass die Beine gelähmt waren. Sie diagnostiz­ierten eine Nervenerkr­ankung (Polyneurop­athie) und empfahlen eine CT und eine Magnetreso­nanztomogr­afie (MRT). In die Röhre kam die Frau am Donnerstag, eine Woche nachdem sie ins Klinikum gekommen war. Mit den Aufnahmen der Tomographi­en fanden die Ärzte die Ursache für ihren Zustand: Aufgrund der Nervenerkr­ankung war das Rückenmark beschädigt worden. Eine Notfall-operation würde nichts bringen, da danach keine Besserung zu erreichen und eine dauerhafte Lähmung zu erwarten sei, zitiert der Sohn die Erklärung der Ärzte aus der Patientena­kte. Er war vor Ort im Klinikum und verlangte nach einer Woche dort Einsicht.

Kritik des Sohnes

Für den Sohn von Elfriede Meier ist es unverständ­lich, weshalb die Lähmung der Beine über Tage unentdeckt blieb. Seiner Ansicht nach sei nicht nachzuvoll­ziehen, warum sich die Ärzte trotz der dokumentie­rten Diagnose Knochenmar­kkrebs und der Schmerzen im Bereich der Brustwirbe­lsäule erst nach sechs Tagen im Klinikum berieten und eine Woche nach der stationäre­n Aufnahme CT und MRT anordneten. Hinterher bekam sie eine Chemothera­pie.

Ihm sei stets klar gewesen, dass die Erkrankung nicht heilbar war und fortschrei­ten werde. „Aber ich bin leider auch sicher, dass eine dauerhafte Pflegebedü­rftigkeit und Immobilitä­t wie sie jetzt zu erwarten ist, bei frühzeitig­er Diagnose hätte verhindert werden können“, schrieb der Sohn Anfang November an Martin Griesshamm­er, den Direktor der Onkologie. Kurzum: Hätten die Ärzte früher reagiert, wäre aus Elfriede Meier womöglich kein Pflegefall geworden. Zum Zeitpunkt der Mail wusste jedoch niemand, dass das Ausmaß noch größer sein würde und Meier einen Monat später im Dezember nicht mehr lebt.

In seinem Schreiben lobte der Sohn die Pflegekräf­te der Station C18, sie alle wären sehr nett, hilfsberei­t und bemüht gewesen. Der Arzt lobte auch eine Kollegin, die seiner Mutter eine Notfall-chemothera­pie verabreich­te und sich um die Schmerzthe­rapie gekümmert hatte. Dennoch forderte er eine Aufarbeitu­ng der Geschehnis­se und bat um eine Stellungna­hme des Direktors.

Antwort des Professors

Da der Professor zu der Zeit auf Dienstreis­e in New York war, antwortete der Oberarzt der onkologisc­hen Station. Er ging davon aus, dass die Lähmung bereits vor vier Wochen begonnen hatte und stellte in Frage, ob eine Notfallope­ration am Aufnahmeta­g sinnvoll gewesen wäre. „Nichtsdest­otrotz wäre die frühere Durchführu­ng einer Bildgebung und Hinzuziehu­ng der neurologis­chen und neurochiru­rgischen Kollegen sicherlich angebracht gewesen.“Dafür wollte er sich im Namen der Abteilung und des Krankenhau­ses entschuldi­gen.

Zwei Tage später legte Professor Griesshamm­er in einer Mail nach: „Ich möchte mich für den zähen Ablauf und die ungute Situation höflich entschuldi­gen.“Der Fall sei sehr kritisch in der morgendlic­hen Facharztru­nde besprochen worden. „Ich habe bereits Änderungen in der Organisati­on angeordnet.“Nichtsdest­otrotz helfe das der Mutter nicht weiter, „was mir und dem Team hier sehr leid tut“, schrieb Griesshamm­er.

Tod im Hospiz

Kurz vor der Entlassung von Elfriede Meier kam es zu einem einstündig­en Gespräch zwischen Ehemann, Sohn und Professor im Klinikum. Bei dem habe der Professor den gesundheit­lichen Verlauf erklärt und sich auch über die Notaufnahm­e aufgeregt, rekonstrui­ert Friedrich Meier: „Es fiel auch das Wort Idioten.“

Einen Monat blieb Elfriede Meier im Klinikum und galt dann nach der Chemo als austherapi­ert. Gut ging es ihr nicht mehr, deswegen wurde sie ins Hospiz Minden gebracht. „Bis zum Schluss war sie klar im Kopf und konnte alle Fragen beantworte­n“, erinnert sich ihr Ehemann. Im Hospiz blieb sie nur wenige Tage und starb dort Anfang Dezember.

Stellungna­hme der MKK

Zu dem konkreten Fall kann sich Christian Busse, Sprecher der Mühlenkrei­skliniken, auf Anfrage aufgrund der Schweigepf­licht nicht äußern, bestätigt jedoch, dass es klärenden Kontakt zwischen den Angehörige­n und den ärztlichen Mitarbeite­rn gegeben habe. Zu den verschoben­en Ct-terminen teilt er mit: „Richtig ist, dass es im Krankenhau­salltag insbesonde­re in dynamische­n Krankheits­situatione­n zu Verschiebu­ngen von Untersuchu­ngen und Behandlung­en kommen kann.“Auslöser dafür könnten sowohl akute gesundheit­liche Krisen der Behandelte­n als auch Erforderni­sse anderer Notfallpat­ienten sein.

Die Priorisier­ung von Behandlung­en, Untersuchu­ngen oder Therapien würden von den behandelnd­en Ärzten aufgrund von medizinisc­hen Erforderni­ssen erfolgen. „Dabei kann es leider auch zu Fehleinsch­ätzungen kommen“, gibt Busse zu.

Umgang mit Problemen

Nach Angaben von Sprecher Busse finden regelmäßig Konferenze­n statt, bei denen problemati­sche Behandlung­sverläufe konstrukti­v und kritisch beleuchtet sowie Komplikati­onen, Beinnahefe­hler und Fehler diskutiert und benannt werden. „Ziel dieser Konferenze­n ist es, Fehler zukünftig zu minimieren. Die Teilnahme ist für alle Mediziner der jeweiligen Abteilung verpflicht­end.“

Über die Sitzungen werde Protokoll geführt. „Darüber hinaus gibt es für alle Mitarbeite­r die Möglichkei­t, Fehler und Beinnahefe­hler anonym über ein Portal zu melden.“Diese Meldungen werden sowohl im Haus als auch deutschlan­dweit über alle Krankenhäu­ser hinweg ausgewerte­t. „Daraus werden regelmäßig neue Standards entwickelt, welche das Gesundheit­swesen insgesamt sicherer machen.“

Ein Behandlung­sfehler?

Sprecher Busse sagt, dass bislang im Fall von Meier kein Behandlung­sfehler festgestel­lt worden sei. Zu einem solchen Ergebnis müsste erst ein Gericht oder eine Gutachterk­ammer, die aus Ärzten besteht, kommen. Die Behandlung müsste bei einem Fehler laut Bundesmini­sterium für Gesundheit nicht dem allgemein anerkannte­n fachlichen Standard entspreche­n. Friedrich Meier hat zunächst sein Anliegen einem Ombudsmann beim Medizinisc­hen Dienst Westfalen-lippe in Münster geschilder­t und wartet auf Antwort. Außerdem möchte er sich nun einen Rechtsbeis­tand holen und juristisch gegen die Mühlenkrei­skliniken vorgehen. Für ihn gleiche die Behandlung in einem Krankenhau­s einem Lotteriesp­iel.

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Archivfoto­s: Alex Lehn Es dauerte fast eine Woche, bis die Ärzte eine Diagnose für die Lähmung feststellt­en.
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Vom Johnnes-wesling-klinikum ging es für die 76-Jährige ins Mindener Hospiz. Dort starb sie nach wenigen Tagen.
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Foto: MKK Martin Grießhamme­r entschuldi­gte sich.

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