Natürliche Regulierung statt Giftspritze
Immer wieder fressen Schädlinge Kiefern- und Eichenforsten leer. Waldbesitzer wollen deshalb schneller zur Giftspritze greifen. Wissenschaftler bauen auf Vielfalt und natürliche Prozesse.
Im deutschen Wald dominiert die Monokultur – ein Festessen für Insekten. Forstwirte und Ökologen streiten um Lösungen.
Besuchern des Kiefernwaldes im sachsen-anhaltischen Kenzendorf bei Letzlingen bot sich im Jahr 2009 ein gespenstischer Anblick. Dort, wo einst auf einer Fläche von 100 Hektar prächtige Kiefern wuchsen, fanden sich auf einer Länge von mehr als vier und einer Breite von rund einem Kilometer nur noch braune Baumgerippe. Schuld daran hatte ein kleiner Hautflügler mit dem etwas umständlichen Namen »Gemeine Kiefernbuschhornblattwespe«. Dessen Raupen hatten sich flächendeckend die Kiefernnadeln einverleibt. Als die Kiefern im Jahr darauf austreiben wollten, setzte ihnen ein Pilz namens Sphaeropsis sapinea zu. »Danach waren die Kiefern mausetot«, erinnert sich der zuständige Revierförster Frank Zeiseweiß. Weil solche Ergebnisse wiederzukehren drohen, schlug der Waldbesitzerverband SachsenAnhalt im September Alarm: »Ohne den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln sind viele Waldflächen vor allem in Ostdeutschland vom Absterben bedroht.« Der Verband warnte vor einer »ökologischen und wirtschaftlichen Katastrophe in den Kiefern- und Eichenwäldern Deutschlands«.
Alarmmeldungen von Förstern und Waldbesitzern sind in Deutschland nichts Neues. Mit mehr als elf Millionen Hektar bedeckt Wald rund ein Drittel der Landfläche. Immer wieder kommt es zu Schäden, wenn ausgelöst durch trockene und warme Jahre Forstschädlinge in großen Massen auftreten – so wie mal wieder in diesem Jahr. In einem brandenburgischen Naturschutzgebiet sollen 1400 Hektar kahl gefressen worden sein, in Niedersachsen einige 100 Hektar in FFH-Gebieten (Flora-Fauna-Habitat). Die Insektenarmada, vor der sich die Waldbesitzer fürchten, ist groß: Nonne, Kiefernspinner oder Kiefernbuschhornblattwespe stürzen sich auf Kiefernnadeln, Eichenprozessionsspinner lieben Eichen, der Buchdrucker Fichten und alle paar Jahre sorgt der Maikäfer für Ärger, wenn er sich über die Eichen in Baden-Württemberg hermacht. Weil trocken-warme Jahre in der Vergangenheit infolge des Klimawandels immer häufiger wurden, fühlten sich die Forstschädlinge in unseren Breiten immer wohler. »Es gibt mehr Arten, die vom Klima profitieren als Arten, für die das nachteilig ist«, sagt Katrin Möller, Biologin am Landeskompetenzzentrum Forst Eberswalde. So tritt zum Beispiel der Kiefernspinner immer häufiger auf, da sich die Ruhephasen verkürzen. Wissenschaftlich belegt hat dies anhand des Eichenprozessionsspinners das Julius-Kühn-Institut (JKI). Demnach haben die Bestände des kleinen Falters, dessen Härchen zu starken Juckreizen bei Menschen führen können, seit 2007 kontinuierlich zugenommen. Stark verbreitet ist er in Baden-Württemberg, Bayern sowie in Brandenburg und SachsenAnhalt. »Neben Eichenwäldern werden verstärkt auch Erholungs- und Siedlungsbereiche des Menschen im urbanen Grün besiedelt«, sagt JKIForscherin Nadine Bräsicke.
Der Forstwissenschaftler Michael Müller von der TU Dresden sieht in dem gehäuften Auftreten der Tiere ein natürliches Phänomen. »Diese Insek-
»Das Interesse vieler Waldbesitzer galt über Jahrhunderte vor allem dem Ziel, möglichst einfach und möglichst schnell viel Holz zu produzieren.«
Stefan Adler, NABU-Waldreferent ten haben derartige Vermehrungspotenziale«, sagt er. Zum Problem würden die Massenvermehrungen aber nur, weil sie mit den wirtschaftlichen Zielen des Menschen für den Wald kollidierten. »Da diese Insekten menschlich definierte Ziele gefährden können, sind sie manchmal Schädlinge und verursachen Schäden, die es dann zu vermeiden oder hinzunehmen gilt«. Im Klartext: Förster und Waldbesitzer möchten mit ihren Wäldern Geld verdienen. Fressen sich Kieferspinner & Co. jedoch durch den Wald, sinken die Einnahmen. Das sorgt für Diskussionen. Der NABU-Waldreferent Stefan Adler zählt zu denjenigen, die dafür plädieren, solche Schäden hinzunehmen. Aus seiner Sicht ist das Problem hausgemacht: »Das Interesse vieler Waldbesitzer galt über Jahrhunderte vor allem dem Ziel, möglichst einfach und möglichst schnell viel Holz zu produzieren«, sagt Adler. Ökologische Aspekte seien dabei oft vernachlässigt worden. Deshalb wurden schnell wachsende Baumarten wie die Kiefer gepflanzt, Mischbaumarten wie Birke oder Eberesche wurden den Wäldern dagegen gezielt entnommen.
In den Wäldern Brandenburgs, wo nach dem Zweiten Weltkrieg als Folge der Reparationsleistungen an die Alliierten vor allem Kiefern gepflanzt wurden, macht die Baumart heute 77 Prozent der Waldfläche aus. Adler: »Das sind quasi Kiefernwüsten«. Vom Chemikalieneinsatz hält der Waldexperte nichts: »Kurzfristig geht die Population der Schädlinge in den Keller, aber die Ausgangssituation, nämlich beste Lebensbedingungen für die Kiefernfraßgesellschaft, bleibt erhalten.« Irgendwann erholten sich die bekämpften Arten und fänden wieder viele Kiefern vor. Dann beginne der Gifteinsatz von vorne. Sinnvoller sei, statt auf Monokulturen auf Mischwälder zu setzen, die unter den natürlichen Verhältnissen auch vielerorts wachsen würden. Doch die gediehen vor allem auf Freiflächen kaum. »Der Umbau zu Mischkulturen funktioniert besser, wenn einzelne Kiefern stehen bleiben, um so junge Bäume vor Wind und Frost zu schützen«, sagt Möller. Deshalb dauere der Umbau lange. Hinzu kommt, dass vielerorts die Qualität der Böden gering ist. Förster Zeiseweiß verweist beispielsweise in seinem Revier auf extrem sandige Böden: »Hier wachsen nur Kiefern und vielleicht noch ein paar Birken«.
Während die Diskussionen in Mitteldeutschland momentan hochkochen, sind die Debatten um den Borkenkäfer im Nationalpark Bayerischer Wald abgekühlt. Dort fürchteten Waldbesitzer, dass sich Borkenkäfer auch in angrenzenden Wirtschaftswäldern breitmachen könnten. Diese Ängste haben sich nicht bewahrheitet, weil die Parkverwaltung in einer Pufferzone, die den Nationalpark umgibt, umgeknickte oder bereits vom Borkenkäfer befallene Fichten abtransportieren oder entrinden lässt. »Das funktioniert sehr gut, sodass ein Übergreifen des Borkenkäfers in Wirtschaftswälder verhindert wird«, sagt Marco Heurich, stellvertretender Leiter des Nationalparksachgebietes Naturschutz und Forschung. Was passiert, wenn sich der Mensch aus der Natur raushält, lässt sich im Nationalpark rund um den Berg Lusen beobachten. Dort fielen Mitte der 90er Jahre mehrere 1000 Hektar Fichtenwald dem Befall durch den Borkenkäfer zum Opfer. 20 Jahre später wächst in den Hochlagen wieder Fichte, in tieferen Lagen ein Fichten-Buchen-Tannen-Mischwald. »Die Wälder sind deutlich strukturierter und haben eine höhere Biodiversität als zuvor«, bilanziert Heurich.
Bundesweit machen Mischwälder laut der jüngst veröffentlichten Bundeswaldinventur rund drei Viertel der gesamten Waldfläche aus. Diese sind aus Sicht des Bundesforstministers Christian Schmidt »gut gerüstet für die Herausforderungen des Klimawandels und Schadereignisse wie Stürme oder den Befall durch Borkenkäfer.« Eine generelle Gefahr für Deutschlands Wälder, wie das die Waldbesitzer in Sachsen-Anhalt beschwören, sieht auch TU-Wissenschaftler Müller nicht. »Dafür sind die Wälder zu vielfältig und regenerationsfähig«, sagt er. In den betroffenen Gegenden sind die Insekten jedoch sehr gefährlich, da sie auf Zehntausenden Hektar Wald die Bäume zum Absterben bringen oder zumindest so auflichten können, dass sich die Waldökosysteme für Jahrzehnte wandeln, ehe sie wieder den ursprünglichen Zustand annehmen können.
Wenn die Insekten alle paar Jahre in Massen auftreten, profitieren ihre Fraßfeinde: Schlupfwespen, Brackwespen, Waldvögel sowie Wildschweine, die die Raupen während der Winterruhe im Boden dezimieren. Auf eine natürliche Regulation von Massenvermehrungen wollen die Waldbesitzer in Sachsen-Anhalt aber nicht setzen, stattdessen fordern sie mehr Chemie im Wald. Dabei berufen sie sich auf den von der Bundesregierung beschlossenen Nationalen Aktionsplan zur nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln. Dort heißt es, dass der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln unverzichtbarer Bestandteil des Schutzes des Waldes sei. Um gegen die Raupen in den Kronen von Kiefern und Eichen vor allem aus der Luft besser vorgehen zu können, müssen sich die Waldbesitzer den Lufteinsatz beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit genehmigen lassen. Weil dafür Gutachten anderer Behörden wie etwa des Umweltbundesamtes nötig seien und anschließend auch noch die zuständige Landesbehörde grünes Licht geben müsse, komme der Einsatz oft zu spät. »Dann gibt es eine Genehmigung, aber die ist oft sinnlos, weil der richtige Zeitpunkt schon vorbei ist«, sagt Ehlert Natzke, Geschäftsführer des Waldbesitzerverbandes Sachsen-Anhalt.
Revierförster Zeiseweiß hat die einst zerstörte Fläche mittlerweile wieder mit Kiefern aufgeforstet. Dort sollen, so es die Kiefernbuschhornblattwespe zulässt, in einigen Jahrzehnten bald wieder kräftige Kiefern wachsen.