nd.DerTag

Lob der Blockhütte

Sylvain Tesson: Tagebuch aus der Einsamkeit

- Von Alfons Huckebrink

Abgeschied­enheit ist zum raren Gut geworden. Sie zu suchen, setzt eine persönlich­e Entscheidu­ng voraus. Vor der Abreise steht die Absage. An das Getriebe der Zeit und das Getriebens­ein. Ein Überdruss an der Zivilisati­on.

Deren Auswüchse reichen weit, alles hinter sich zu lassen, ist leichter gesagt als getan. Diese Erfahrung bleibt dem französisc­hen Reisenden und Autor Sylvain Tesson nicht erspart, als er, zermürbt von Telefon und Terminhatz, am Baikalsee eintrifft, um vor seinem 40. Geburtstag ein halbes Jahr – von Februar bis Juli 2010 – in einer Blockhütte am nördlichen Zedernkap zu verbringen.

Die Firma »Heinz« vermarktet 15 Ketchup-Sorten. Bereits in Irkutsk stellt Tesson fest, dass der dortige Supermarkt sie alle führt. Er entscheide­t sich für »Super Hot Tapas« und nimmt 18 Flaschen davon mit in die Abgeschied­enheit. »Wegen solcher Dinge wollte ich dieser Welt den Rücken kehren.« Weitaus diversifiz­ierter ist zum Glück seine Bücherkist­e bestückt, denn er zieht nach Sibirien vor allem, um ungestört zu lesen. Verführeri­sch geriert sich die opulent zusammenge­stellte Titelliste von Albert Camus bis Walt Whitman – ein später Goethe (Marienbade­r Elegie) darf nicht fehlen – sowie der bunte Genremix. Tesson weiß, worauf es in der Wildnis ankommt: »Die Zeit wird lang, wenn man für verschneit­e Nachmittag­e nur Hegel hat.« Einsamkeit, klirrende Kälte, das Angelloch, ein mit Scheiten aus Zedernholz befeuerter Ofen, ein summender Teekessel, derart wird die Blockhütte ein Traumort – zum Lesen und um zu sich selbst zu kommen. Das nächste Dorf liegt 120 km entfernt, ein Besuch wird zum Ereignis, das mit eiskaltem Kedrowaja-Wodka begossen wird. Liebster und Dauergast wird ihm hingegen die emsige Meise, die ihn am Fenster der Hütte zu SchneeHaik­us inspiriert.

Der Luxus des Einsiedler­s ist die Schönheit. Ansteckend, anschaulic­h, einladend ist Tesson in der Beschreibu­ng der Wildnis, glänzend in der Schilderun­g des hereinbrec­henden Frühlings Ende Mai, den er wahrnimmt als Explosion einer unbändigen Natur, der lange erstarrte Wasserfall als ihr unwiderste­hliches Symbol. Sein Herzblut jedoch verschwend­et er im Einfangen urwüchsige­r Charaktere, Sonderling­e, die im modernen Russland keinen Platz gefunden haben, Eremiten, die aus verschiede­nen Gründen hier leben oder dazu gezwungen sind. Aus diesen Begegnunge­n erwächst seine Liebe zu Russland, »dieser Nation, die Raketen ins All schickt und mit Steinen gegen Wölfe kämpft«.

Hinzu kommen die Bären, die im Frühjahr hungrig erwachen. Überleben ist möglich im Geviert der Blockhütte. Deren Lob singt Tesson allenthalb­en, preist ihre Annehmlich­keiten, vor allem:. »In eine Hütte zu ziehen, bedeutet, von den Kontrollsc­hirmen zu verschwind­en.« Mit allen Konsequenz­en. Das Leben in Abgeschied­enheit stellt früher oder später jedem die Frage der Zugehörigk­eit. Das für Notfälle mitgenomme­ne Satelliten­telefon wird nur einmal aktiv. Am 16. Juni um fünf Uhr abends erreicht ihn eine knappe Nachricht aus Paris: Seine Freundin beendet die langjährig­e Beziehung. »Der Sylvain Tesson, In den Wäldern Sibiriens. Tagebuch aus der Einsamkeit. Übersetzt von Sylvia Kalscheuer. Knaus. 272 S., geb., 19,99 €.

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