»Wir überlassen die Industriegesellschaft, die ihrem sicheren Untergang zugeht, von nun an ihrem Schicksal.«
Sie gelten als Pioniere einer gelebten Utopie, selbstbewusste Streithähne, auch ein alter Sektenvorwurf taucht in vergilbten Zeitungsartikeln auf. Vor 40 Jahren beschlossen 30 Jugendliche, ihr widerständiges Leben gemeinsam zu organisieren. Heute leben und arbeiten rund 200 Menschen in den Kooperativen von Longo maï.
Der konkrete Beginn ist auf das Jahr 1973 festgelegt, für einige AktivistInnen zeigte die 1968er Bewegung bereits erste Risse, gerade Jugendliche waren auf der Suche, ihre Ideen von Widerstand gegen die kapitalistische Gesellschaft in eine gemeinsame Perspektive umzusetzen. Ein Jahr zuvor, im Winter 1972, hatten sich einige von ihnen im schweizerischen Basel getroffen und zur Bildung europäischer Jugendgemeinschaften aufgerufen: »Wir weigern uns, weiterhin ein Spiel zu spielen, das für uns von vornherein verloren ist und nur dazu führt, dass wir kriminalisiert werden. Wir überlassen die Industriegesellschaft, die ihrem sicheren Untergang zugeht, von nun an ihrem Schicksal. Wir suchen in jenen verödeten Regionen Zuflucht, die der triumphierende Kapitalismus zynischerweise zum Tode verurteilt hat, und schaffen uns eine Lebensgrundlage in den Bergen.«
Kurze Zeit später fand die Gruppe einen Ort in der französischen Provence, 300 Hektar Land, drei verfallene Höfe – viel Arbeit. Landwirtschaft war vielen von ihnen fern: Nach Wasser graben, Felder freilegen, Tiere halten, Obst- und Gemüseanbau, Gebäude herrichten. Wissen musste erarbeitet werden, ohne die Unter- stützung der Bauern in der Region wäre wohl vieles nicht möglich gewesen. Einige halfen gerne, andere blieben misstrauisch. Doch die Jugendlichen wollten bleiben. Sie gaben sich den Namen Longo maï, übersetzt: »Es möge lange dauern«.
Mit den Höfen in der Provence begann ein neuer Abschnitt. Als Teil der Lehrlingsbewegung hatten in Österreich und der Schweiz zuvor zwei kommunistische Gruppen Widerstand gegen Erziehungsheime und die Ausbeutung von Lehrlingen am Arbeitsplatz organisiert. Ähnlich wie heute war zudem die Jugendarbeitslosigkeit in Europa ein wachsendes Problem. Immer deutlicher stand den Jugendlichen vor Augen: gemeinsam leben und politisch intervenieren.
Die Reaktion des Staates ließ nicht lange auf sich warten. Bereits im Herbst 1973 wurden acht Gründungsmitglieder von der französischen Regierung ausgewiesen. Die offizielle Begründung: Die Kooperative liege zu nah an der Basis der französischen Atomstreitmacht auf dem Plateau d'Albion. Tatsächlich war die linksradikale Umtriebigkeit der Jugendlichen der Regierung ein Dorn im Auge. Erst vier Jahre später wurde das Einreiseverbot aufgehoben. In dieser Zeit kam es zu einer Solidaritätswelle. Immer mehr europäische Jugendliche schlossen sich an, in zahlreichen Ländern kam es zu Neugründungen.
Die nächsten Jahre blieben turbulent. Die tragenden Säulen der Kooperative sind ökologische Landwirtschaft auf der Grundlage der Selbstversorgung und transnationales politisches Engagement. 1982 wurde das Europäische Komitee zur Verteidigung der Flüchtlinge und Gastarbeiter gegründet. C.E.D.R.I versteht sich als Antwort auf die verschärfte europäische Asylpolitik und kämpft gegen die Ausbeutung und Abschiebung von Menschen ohne Papiere, gegen das Hofieren korrupter Diktaturen und die Kriminalisierung politischer EmigrantInnen durch die bürgerlichen Demokratien. In Frankreich entstand Radio Zinzine, das freie Radio sendet täglich 24 Stunden. Neue Kooperativen kamen hinzu. Auf die Umstrukturierung Europas nach der deutschen Wende wurde 1990 mit der Gründung des Europäischen Bürgerforums reagiert. Die Idee: ein Europa von unten.
Heute gibt es zehn Longo-maï-Kooperativen: Außer der Zentrale, das Longo-maï-Haus in Basel, in dem die Verwaltung und zahlreiche Initiativen sitzen, sind alle Kooperativen landwirtschaftliche Höfe: Fünf liegen in Frankreich, je eine in Deutschland, Österreich, der Ukraine und der Schweiz. Alle Gebäude und Produktionsmittel sind gemeinsamer Besitz, eingetragen auf eine Stiftung, damit sie auch in den kommenden Jahren denen gehören, die das Land bewirtschaften und eine gemeinsame gesellschaftliche Perspektive leben.
Gerade die ersten Jahre sind neben aller Aufbruchseuphorie von schwierigen Zeiten begleitet. Entschieden wird basisdemokratisch: gibt es keinen Konsens, gibt es keine Entscheidung. Diese formlose Struktur führte zwangsläufig auch zu Zerwürfnissen. Denn es gibt zwar keinen Chef, aber Menschen, gegen die schwer anzukommen ist. Streit gibt es besonders um einen der Gründer, Rémi. Ihm wird Machtgehabe vorgeworfen, andere stützten ihn, der viel Erfahrung einbrachte. Wo es keine Chefs gibt, können sie auch nicht formell abgesetzt werden. Als nach seinem Tod 1993 drei Weggefährten sich um seine Nachfolge streiten, ist den anderen klar: dieser Platz muss gar nicht neu besetzt werden.
Politischer Aktivismus, der Aufbau Aufruf: Bildet Europäische Jugendgemeinschaften! 1972 der Höfe, für alles wird nach dem Aufbruch schnödes Geld gebraucht. Auch Longo maï kann sich nur in Grenzen außerhalb des Kapitalismus bewegen. In Kampagnen werden sehr erfolgreich Spenden gesammelt, besonders in der Schweiz gibt es viele Menschen, die der Idee nahe stehen, ohne selbst aus ihrem bürgerlichen Leben aussteigen zu wollen. Beinahe wäre Longo maï schon nach wenigen Jahren an diesem Erfolg zerbrochen. Gegenüber der Schweizer Tageswoche beschreibt einer der Gründer, Hannes Reiser: »Über 100 000 Spender zahlten Beiträge, wir waren völlig überfordert von dieser Welle.« Nicht nur die Verwaltung, auch die Verteilung gerät chaotisch. Eine bürgerliche Pressekampagne rückt die Kooperative 1979 in die Nähe einer Sekte, ein Vorwurf, der bis heute in vielen Köpfen hängengeblieben ist. Linke Medien warfen den KommunardInnen Verschwendung von Spendergeldern vor. Zweieinhalb Monate lang ist Longo maï im Fokus der Medien. Viele SpenderInnen forderten ihr Geld zurück. In einer Gegenkampagne erklären Eltern der Jugendlichen ihre Solidarität, ehemalige KommunardInnen meldeten sich zu Wort. »Wir schafften die Kurve, besannen uns auf unsere Kernaufgaben und brauchten mehr als zehn Jahre, um die Schulden zurückzuzahlen«, erklärt Reiser.
Diese turbulenten Anfangszeiten und Vorwürfe rücken gerade in Zeiten des Rückblicks wieder in den Fokus. Dabei ist die gelebte Gegenwart der KommunardInnen in vielen Bereichen so aktuell wie damals. Solidarität mit Geflüchteten, Widerstand gegen industrialisierte Landwirtschaft und Naturzerstörung, Auseinandersetzungen mit neuen und alten Nazis. Die Selbstversorgung bietet zudem die Grundlage eines bedingungslosen Grundeinkommens, eine Idee, über die in der Linken lange theoretisch gestritten wird.
Die Vorstellung einer radikalen Abkehr vom kapitalistischen System zieht auch heute noch Jugendliche an, ein Generationswechsel steht bevor. »Seit 40 Jahren versuchen wir, die Idee umzusetzen, dass es keine Trennung zwischen Privatem, Arbeit und Politik gibt«, sagt Hannes Reiser. Die KommunardInnen der Longo maï wollten sich nie auf ein paar Hektar Utopie zurückziehen.