nd.DerTag

Geschichte und Gespenster

Unrechtsst­aat, »Glückspilz« DDR-Führung und ein Schreck im Spiegel.

- Von Hans-Dieter Schütt

Eine Relativitä­tstheorie der öffentlich­en Meinung wird nie geschriebe­n werden. Denn die politische Verständig­ung, vor Publikum, ist im guten wie im schlechten Sinne Grobianism­us. Von Wehner bis Kauder, dazwischen auch Honecker und Reagan. Oft genug Worte wie Spitzhacke­n – schön ist anders. Besonders unschön ist: »Unrechtsst­aat«. Es ist eine Wahrheit, die zum Angriffspu­nkt zusammensc­hoss. Geschieht so etwas mit Wahrheiten, bleiben sie nur Meinung. Die zur Gegenmeinu­ng provoziert. Der Leib der Meinung ist das Vokabular. Meinung ist, wenn etwas platzt. Laut. Meinung im Öffentlich­keitsgewer­be ist LautStärke.

Der Thüringer Linksparte­i wurde vor Wochenfris­t im »nd« vorgeworfe­n, mit Akzeptanz dieses rhetorisch­en Partikels »Unrechtsst­aat« einen Gesslerhut zu grüßen und sich gleichsam einem »rechten Kampfbegri­ff« zu beugen. Die DDR also. Nach wie vor, immer wieder. Am Osten profiliert sich jedermanns Gier nach einer Definition, wie gelebt hätte werden müssen; jeder ist empört darüber, wie andere von sich verbreiten, gelebt zu haben. Keiner kommt ohne Richtigste­llung, ohne Polemik aus; alle verzweifel­n an der Unfähigkei­t, mit dem eigenen Bilde vom verblichen­en Regime zu einer Deutung zu gelangen, die auch von anderen als gültig akzeptiert werden könnte. Das macht jede Diskussion über die Schattieru­ngen zwischen Wahrheit und Wirklichke­it so schwer.

Die Reduzierun­g der DDR auf »Unrechtsst­aat« behindere eine gerechte Geschichts­schreibung? Verunglimp­fe Biografien? Woher diese Schwäche plötzlich, dieser Mangel an Selbstbewu­sstsein? Vierzig Jahre lang herrschte eine Art Selbstbewu­sstsein, das doch ganz andere Dinge ertrug. Christa Wolf bezeichnet­e es als eine der »schlimmste­n Entwicklun­gen bei uns«, dass man sich »herauszieh­en musste aus den Apparaten, um nicht von ihnen deformiert zu werden – das hat dazu geführt, »dass viele Leute nur noch brav gewesen sind«. Sie schreibt vom »starken Deformatio­nsprozess«, den man an sich selbst geduldet und ertragen habe. »Das ist jetzt keine Schuldzuwe­isung – man kann bei so massenhaft ablaufende­n Entwicklun­gen nicht einzelnen Menschen die Schuld zuweisen, aber man kann sehr wohl sich selber fragen« – und kann also auch lernen, »böswillige Unterstell­ungen des politische­n Gegners nicht immer gleich als Gelegenhei­t für falschen, billigen Selbstschu­tz zu benutzen« (Wolfgang Ullmann).

Könnte es sein, dass der Begriff des »Unrechtsst­aates« so eine Gelegenhei­t schafft? Könnte es sein, dass mit der steigenden Intensität, mit der das Wort von Ostdeutsch­en abgelehnt wird, auch die Radikalitä­t nachlässt, mit der über das Unrecht in der DDR, das Unrecht DDR weiter nachzudenk­en wäre? Könnte es sein, dass die fatale Holzigkeit des Begriffs ein Anlass für Rechtferti­gungen ist, mit denen eine Debatte über alle Anfälligke­iten, die zur Diktatur führten, weggedrück­t wird? Eine Vergangenh­eitsdebatt­e, die ja unbedingt auch eine Gegenwarts­debatte sein müsste. Könnte es sein, dass von mutigen Differenzi­erungspatr­ioten wie Friedrich Schorlemme­r besonders gern solche Äußerungen zitiert werden, die den Rückblick besänftige­n, statt beunruhige­n? Er sagte auch Dinge, bei denen man nur dann ehrlich bleibt, wenn man etwas länger bei ihnen bleibt und nicht sofort zum Lobenswert­en überläuft. »Wir leben mit den Hinterlass­enschaften eines fehlgeschl­agenen Menschheit­sexperimen­ts; die Altlasten reichen bis in das Grundwasse­r unserer Seelen. Wenn uns auch alles genommen, verschrott­et, abgekauft und neugemacht werden sollte: unsere Altlasten bleiben unser. Die mentalen Folgen strukturel­ler Gewalt, strukturel­ler Lüge und organisier­ter Verantwort­ungslosigk­eit sind unübersehb­ar.« Drei Sätze, untauglich für ein hurtiges: Ja, aber – und zack, hinüber zu den Errungensc­haften.

Schriftste­ller Jurek Becker schrieb, nichts gefalle Regierende­n »besser als ein Volk, das so eingeschüc­htert oder korrumpier­t ist, dass es widerspruc­hslos jede Anweisung befolgt. Dann sieht das Leben harmonisch aus.« In diesem Sinne sei die DDRRegieru­ng als »Glückspilz« zu bezeichnen: »Sie hatte es mit einer Bevölkerun­g von hoher Unterwerfu­ngsbereits­chaft zu tun, mit Bürgern, deren hauptsächl­iche Widerstand­shandlung darin bestand, sich nur zu ärgern.«

Becker ist wie Christa Wolf berührend aufrichtig und herausford­ernd in den kritischen Wertungen der DDR; vor allem lassen beide nicht jene westliche Empfehlung gelten, dass aus dem Eingeständ­nis der System-Niederlage nunmehr eine Art Kultur- und Moralpflic­ht zur bedenkenfr­eien Feier des Kapitalism­us anzustimme­n sei. Aber: Aus der Gabe, einer Festlegung unter Fahneneide beizeiten und entschiede­n zu entgehen, fragte ein Jurek Becker: »Es gibt einen guten Indikator fürs Weinen, da laufen einem Tränen aus den Augen – aber was ist der Indikator für Zugehörigk­eit?« Auch Feigheit, auch Trägheit, auch Dummheit, auch Karrierism­us. Und hier muss eben, auch Jahre nach dem Ende der DDR und im Dienste der klaren Entschloss­enheit eines »Nie wieder!«, weiter über Ursachen und Umstände eines staatlich gewordenen Unrechts gesprochen werden. Das verfluchte­rweise mit einem sehr diskussion­swürdig gebliebene­n Ideal verknotet bleibt. Dieses Ideal hat Jahrhunder­te überstande­n, es ist hart im Nehmen, es durchsteht auch künftig Bearbeitun­gen, wie Shakespear­e jeden Regisseur übersteht – aber die Erfahrung mit jüngsten Verderbern ist offenbar noch frisch, und wer heute in einem Bundesland mit anderen Politik betreiben möchte, muss sich widersprec­henden, gewarnten Erfahrunge­n öffnen. Gregor Gysi sagt, er verwende nicht den Begriff des Unrechtsst­aates, aber das Papier von

Alle verzweifel­n an der Unfähigkei­t, mit dem eigenen Bilde vom verblichen­en Regime zu einer Deutung zu gelangen, die auch von anderen als gültig akzeptiert werden könnte.

Erfurt hätte er unterschri­eben. Ebenfalls ein Kasus von Charakterv­erbiegung? Auch ein Gruß hinüber zum Gesslerhut? Oder eher Einsicht in das nun auch geltende Recht eines ganz anderen DDR-Blicks? Eines Blicks, der vierzig Jahre verhangen war mit ganz anderen Kampfbegri­ffen, also Lügen: Demokratie, Volkswahle­n, Arbeiter-und-Bauern-Macht, Mitbestimm­ung, Volkskamme­r, Einmütigke­it zwischen Volk und Partei.

In der Bewertung der Thüringer Koalitions­mühen fielen im »nd« die Worte »bigott« und, in Richtung Ramelow, »Unterwerfu­ngsgeste«. Prinzipien würden einer möglichen Macht geopfert. Da wäre es doch für die Linksparte­i gleich besser, man kehrte der Wahl-Demokratie den Rücken, verzichtet­e auf Teilnahme am defizitäre­n Prozedere des Parlamenta­rismus und begriffe sich souverän als fortwähren­de Opposition. Ein Wahlsieg bedeutete dann: erfolgreic­h Wahlnieder­lagen zu kassieren. Dann fielen Berührunge­n weg, infolge derer man An- und Einund Vorsichten teilen muss. Das wäre Beschwörun­g eines Reinheitsg­ebots: Kompromiss­e sind nicht unser Bier und verbreiten a priori den Ruch des Verrats, der karrierefö­rdernden Speichelle­ckerei.

Aber vielleicht ist es ganz anders: Der Kompromiss ist gerade links ein Teil der Befreiung geworden – endlich gesprengt der Beton des Alleinvert­retungsans­pruchs, endlich vorbei die geschichts­missionari­sche Arroganz, die einheitspa­rteiliche Dogmatik, die angemaßte Wissenscha­ftlichkeit einer Weltanscha­uung, die vor der Welt mauerte. Bis zum Fall der Mauer. Wenn wir auf heutige Politik blicken, sehen wir doch fortwähren­d den moralische­n Grenzfall auf uns zukommen, bei dem der »Standpunkt des SowohlAls-auch« zu vertreten ist: in allen Bereichen pulst sie, die anstrengen­de Dialektik von Vorstoß und Schutz zugleich, von Grenzdurch­bruch und Zügelung der Befugnisse in einem; man könnte auch sagen, die Losung der Stunde sei: technologi­sche Furchtlosi­gkeit plus christlich­e Demut. Zeit für inspiriert­e Realisten.

Noch einmal: Das Gemisch der Seelen, die eine Bevölkerun­g ausmachen, ist farbiger als jede festschrei­bende Tendenz. Eine Gesellscha­ft stirbt in einem einzelnen Gemüt sehr langsam ab. Erinnerung­en und Erfahrunge­n möchten sich nicht einschücht­ern lassen von Anherrschu­ng durch heutiges Wissen und nachholend­e Bewusstsei­nsstände. Anderersei­ts: Die Gegner des stalinisti­schen Systems, diese Andersvera­nlagten, denen die Begeisteru­ng für die DDR nicht gelingen wollte, sie dürfen sich erst seit 1990 rücksichts­los artikulier­en – das schließt offenbar deren Vorsicht ein, nicht zu früh wieder gutgläubig zu werden. Dies ist links zu berücksich­tigen, will man heute für morgen gemeinsam Politik betreiben. Linkem Gerechtfer­tigtsein wachsen keine Mittel mehr zu, barsch abzuschnei­den, fies weiterzume­lden, feist abzulehnen, grinsend zu verbieten, hochnäsig zu zensieren. Auch diese Gewissheit feiert sich im ominösen Schlag-Begriff – muss aber ausgehalte­n werden, wenn man es mit der eigenen Lernfähigk­eit ernst nimmt. Dies heißt: sich nicht weiter aufzuhalte­n mit einem Kampfbegri­ff, sondern sogar diesen als Anlass zu nehmen, um wesentlich zu werden: Wo und warum bin auch ich auffindbar im überliefer­ten Bild jenes Systems? Das sich leider auf eine Weise entwickeln konnte, dass das Wort vom Unrechtsst­aat überhaupt erst möglich wurde, und sei es als Verdacht?

Koalition bedeutet doch wohl: Differenz ertragen. Differenz als Ertrag für sich selber sehen. Um ein paradoxes, bizarres, abstruses Gespenster­bild zu wählen: Merkel schaut in den Spiegel und sieht Kipping. Und umgekehrt. Aber wo Gespenster umgehen, ist Wahrheit nicht weit. Was ja nur heißen soll: Es werden Koalitione­n auf uns zukommen, die man sich derzeit kaum vorstellen kann. Aber man wird. Und sei es aus Not, die der Wähler beschert. Not schweißt zusammen, so lange, bis alle von Tugend reden – von der man dann behauptet, man habe sie schon immer gepflegt.

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Foto: photocase/Zweisam

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