Geschichte und Gespenster
Unrechtsstaat, »Glückspilz« DDR-Führung und ein Schreck im Spiegel.
Eine Relativitätstheorie der öffentlichen Meinung wird nie geschrieben werden. Denn die politische Verständigung, vor Publikum, ist im guten wie im schlechten Sinne Grobianismus. Von Wehner bis Kauder, dazwischen auch Honecker und Reagan. Oft genug Worte wie Spitzhacken – schön ist anders. Besonders unschön ist: »Unrechtsstaat«. Es ist eine Wahrheit, die zum Angriffspunkt zusammenschoss. Geschieht so etwas mit Wahrheiten, bleiben sie nur Meinung. Die zur Gegenmeinung provoziert. Der Leib der Meinung ist das Vokabular. Meinung ist, wenn etwas platzt. Laut. Meinung im Öffentlichkeitsgewerbe ist LautStärke.
Der Thüringer Linkspartei wurde vor Wochenfrist im »nd« vorgeworfen, mit Akzeptanz dieses rhetorischen Partikels »Unrechtsstaat« einen Gesslerhut zu grüßen und sich gleichsam einem »rechten Kampfbegriff« zu beugen. Die DDR also. Nach wie vor, immer wieder. Am Osten profiliert sich jedermanns Gier nach einer Definition, wie gelebt hätte werden müssen; jeder ist empört darüber, wie andere von sich verbreiten, gelebt zu haben. Keiner kommt ohne Richtigstellung, ohne Polemik aus; alle verzweifeln an der Unfähigkeit, mit dem eigenen Bilde vom verblichenen Regime zu einer Deutung zu gelangen, die auch von anderen als gültig akzeptiert werden könnte. Das macht jede Diskussion über die Schattierungen zwischen Wahrheit und Wirklichkeit so schwer.
Die Reduzierung der DDR auf »Unrechtsstaat« behindere eine gerechte Geschichtsschreibung? Verunglimpfe Biografien? Woher diese Schwäche plötzlich, dieser Mangel an Selbstbewusstsein? Vierzig Jahre lang herrschte eine Art Selbstbewusstsein, das doch ganz andere Dinge ertrug. Christa Wolf bezeichnete es als eine der »schlimmsten Entwicklungen bei uns«, dass man sich »herausziehen musste aus den Apparaten, um nicht von ihnen deformiert zu werden – das hat dazu geführt, »dass viele Leute nur noch brav gewesen sind«. Sie schreibt vom »starken Deformationsprozess«, den man an sich selbst geduldet und ertragen habe. »Das ist jetzt keine Schuldzuweisung – man kann bei so massenhaft ablaufenden Entwicklungen nicht einzelnen Menschen die Schuld zuweisen, aber man kann sehr wohl sich selber fragen« – und kann also auch lernen, »böswillige Unterstellungen des politischen Gegners nicht immer gleich als Gelegenheit für falschen, billigen Selbstschutz zu benutzen« (Wolfgang Ullmann).
Könnte es sein, dass der Begriff des »Unrechtsstaates« so eine Gelegenheit schafft? Könnte es sein, dass mit der steigenden Intensität, mit der das Wort von Ostdeutschen abgelehnt wird, auch die Radikalität nachlässt, mit der über das Unrecht in der DDR, das Unrecht DDR weiter nachzudenken wäre? Könnte es sein, dass die fatale Holzigkeit des Begriffs ein Anlass für Rechtfertigungen ist, mit denen eine Debatte über alle Anfälligkeiten, die zur Diktatur führten, weggedrückt wird? Eine Vergangenheitsdebatte, die ja unbedingt auch eine Gegenwartsdebatte sein müsste. Könnte es sein, dass von mutigen Differenzierungspatrioten wie Friedrich Schorlemmer besonders gern solche Äußerungen zitiert werden, die den Rückblick besänftigen, statt beunruhigen? Er sagte auch Dinge, bei denen man nur dann ehrlich bleibt, wenn man etwas länger bei ihnen bleibt und nicht sofort zum Lobenswerten überläuft. »Wir leben mit den Hinterlassenschaften eines fehlgeschlagenen Menschheitsexperiments; die Altlasten reichen bis in das Grundwasser unserer Seelen. Wenn uns auch alles genommen, verschrottet, abgekauft und neugemacht werden sollte: unsere Altlasten bleiben unser. Die mentalen Folgen struktureller Gewalt, struktureller Lüge und organisierter Verantwortungslosigkeit sind unübersehbar.« Drei Sätze, untauglich für ein hurtiges: Ja, aber – und zack, hinüber zu den Errungenschaften.
Schriftsteller Jurek Becker schrieb, nichts gefalle Regierenden »besser als ein Volk, das so eingeschüchtert oder korrumpiert ist, dass es widerspruchslos jede Anweisung befolgt. Dann sieht das Leben harmonisch aus.« In diesem Sinne sei die DDRRegierung als »Glückspilz« zu bezeichnen: »Sie hatte es mit einer Bevölkerung von hoher Unterwerfungsbereitschaft zu tun, mit Bürgern, deren hauptsächliche Widerstandshandlung darin bestand, sich nur zu ärgern.«
Becker ist wie Christa Wolf berührend aufrichtig und herausfordernd in den kritischen Wertungen der DDR; vor allem lassen beide nicht jene westliche Empfehlung gelten, dass aus dem Eingeständnis der System-Niederlage nunmehr eine Art Kultur- und Moralpflicht zur bedenkenfreien Feier des Kapitalismus anzustimmen sei. Aber: Aus der Gabe, einer Festlegung unter Fahneneide beizeiten und entschieden zu entgehen, fragte ein Jurek Becker: »Es gibt einen guten Indikator fürs Weinen, da laufen einem Tränen aus den Augen – aber was ist der Indikator für Zugehörigkeit?« Auch Feigheit, auch Trägheit, auch Dummheit, auch Karrierismus. Und hier muss eben, auch Jahre nach dem Ende der DDR und im Dienste der klaren Entschlossenheit eines »Nie wieder!«, weiter über Ursachen und Umstände eines staatlich gewordenen Unrechts gesprochen werden. Das verfluchterweise mit einem sehr diskussionswürdig gebliebenen Ideal verknotet bleibt. Dieses Ideal hat Jahrhunderte überstanden, es ist hart im Nehmen, es durchsteht auch künftig Bearbeitungen, wie Shakespeare jeden Regisseur übersteht – aber die Erfahrung mit jüngsten Verderbern ist offenbar noch frisch, und wer heute in einem Bundesland mit anderen Politik betreiben möchte, muss sich widersprechenden, gewarnten Erfahrungen öffnen. Gregor Gysi sagt, er verwende nicht den Begriff des Unrechtsstaates, aber das Papier von
Alle verzweifeln an der Unfähigkeit, mit dem eigenen Bilde vom verblichenen Regime zu einer Deutung zu gelangen, die auch von anderen als gültig akzeptiert werden könnte.
Erfurt hätte er unterschrieben. Ebenfalls ein Kasus von Charakterverbiegung? Auch ein Gruß hinüber zum Gesslerhut? Oder eher Einsicht in das nun auch geltende Recht eines ganz anderen DDR-Blicks? Eines Blicks, der vierzig Jahre verhangen war mit ganz anderen Kampfbegriffen, also Lügen: Demokratie, Volkswahlen, Arbeiter-und-Bauern-Macht, Mitbestimmung, Volkskammer, Einmütigkeit zwischen Volk und Partei.
In der Bewertung der Thüringer Koalitionsmühen fielen im »nd« die Worte »bigott« und, in Richtung Ramelow, »Unterwerfungsgeste«. Prinzipien würden einer möglichen Macht geopfert. Da wäre es doch für die Linkspartei gleich besser, man kehrte der Wahl-Demokratie den Rücken, verzichtete auf Teilnahme am defizitären Prozedere des Parlamentarismus und begriffe sich souverän als fortwährende Opposition. Ein Wahlsieg bedeutete dann: erfolgreich Wahlniederlagen zu kassieren. Dann fielen Berührungen weg, infolge derer man An- und Einund Vorsichten teilen muss. Das wäre Beschwörung eines Reinheitsgebots: Kompromisse sind nicht unser Bier und verbreiten a priori den Ruch des Verrats, der karrierefördernden Speichelleckerei.
Aber vielleicht ist es ganz anders: Der Kompromiss ist gerade links ein Teil der Befreiung geworden – endlich gesprengt der Beton des Alleinvertretungsanspruchs, endlich vorbei die geschichtsmissionarische Arroganz, die einheitsparteiliche Dogmatik, die angemaßte Wissenschaftlichkeit einer Weltanschauung, die vor der Welt mauerte. Bis zum Fall der Mauer. Wenn wir auf heutige Politik blicken, sehen wir doch fortwährend den moralischen Grenzfall auf uns zukommen, bei dem der »Standpunkt des SowohlAls-auch« zu vertreten ist: in allen Bereichen pulst sie, die anstrengende Dialektik von Vorstoß und Schutz zugleich, von Grenzdurchbruch und Zügelung der Befugnisse in einem; man könnte auch sagen, die Losung der Stunde sei: technologische Furchtlosigkeit plus christliche Demut. Zeit für inspirierte Realisten.
Noch einmal: Das Gemisch der Seelen, die eine Bevölkerung ausmachen, ist farbiger als jede festschreibende Tendenz. Eine Gesellschaft stirbt in einem einzelnen Gemüt sehr langsam ab. Erinnerungen und Erfahrungen möchten sich nicht einschüchtern lassen von Anherrschung durch heutiges Wissen und nachholende Bewusstseinsstände. Andererseits: Die Gegner des stalinistischen Systems, diese Andersveranlagten, denen die Begeisterung für die DDR nicht gelingen wollte, sie dürfen sich erst seit 1990 rücksichtslos artikulieren – das schließt offenbar deren Vorsicht ein, nicht zu früh wieder gutgläubig zu werden. Dies ist links zu berücksichtigen, will man heute für morgen gemeinsam Politik betreiben. Linkem Gerechtfertigtsein wachsen keine Mittel mehr zu, barsch abzuschneiden, fies weiterzumelden, feist abzulehnen, grinsend zu verbieten, hochnäsig zu zensieren. Auch diese Gewissheit feiert sich im ominösen Schlag-Begriff – muss aber ausgehalten werden, wenn man es mit der eigenen Lernfähigkeit ernst nimmt. Dies heißt: sich nicht weiter aufzuhalten mit einem Kampfbegriff, sondern sogar diesen als Anlass zu nehmen, um wesentlich zu werden: Wo und warum bin auch ich auffindbar im überlieferten Bild jenes Systems? Das sich leider auf eine Weise entwickeln konnte, dass das Wort vom Unrechtsstaat überhaupt erst möglich wurde, und sei es als Verdacht?
Koalition bedeutet doch wohl: Differenz ertragen. Differenz als Ertrag für sich selber sehen. Um ein paradoxes, bizarres, abstruses Gespensterbild zu wählen: Merkel schaut in den Spiegel und sieht Kipping. Und umgekehrt. Aber wo Gespenster umgehen, ist Wahrheit nicht weit. Was ja nur heißen soll: Es werden Koalitionen auf uns zukommen, die man sich derzeit kaum vorstellen kann. Aber man wird. Und sei es aus Not, die der Wähler beschert. Not schweißt zusammen, so lange, bis alle von Tugend reden – von der man dann behauptet, man habe sie schon immer gepflegt.