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Es will nicht gelingen

Nichts beschäftig­t die Pädagogik derzeit so wie die Inklusion. Doch der überhastet begonnene Versuch einer Umwälzung scheint ins Stocken geraten zu sein.

- Von Guido Sprügel

Nun hat es endlich mal ein Politiker offen und ehrlich ausgesproc­hen – zumindest in Hamburg wird es nicht mehr Geld für die Inklusion behinderte­r Kinder in die allgemeine­n Schulen geben. So hat es zumindest Ties Rabe (SPD) auf einer Veranstalt­ung der GEW Ende September ausgesproc­hen. Er erteilte damit den Gewerkscha­ftsforderu­ngen nach einer Einstellun­g von zusätzlich­en 550 Sonderpäda­gogen eine klare Absage. Diese Forderunge­n seien nicht finanzierb­ar – auch nach einer eventuell erfolgreic­hen Wiederwahl der SPD im kommenden Jahr nicht.

Man muss dem Senator zugutehalt­en, dass er überhaupt erst keine leeren Versprechu­ngen im beginnende­n Wahlkampf macht, sondern direkt Tacheles redet. Anja Bensinger-Stolze begründete die Forderung der GEW nach mehr Ressourcen: »Die Ausstattun­g der Inklusion in Hamburg ist völlig unzureiche­nd. Darunter leiden die Arbeitsbed­ingungen der PädagogInn­en und natürlich auch die Qualität von Unterricht. Eine solche Umsetzung der Inklusion als Sparmodell lehnt die GEW ab!« Doch kurzfristi­g etwas an den Rahmenbedi­ngungen ändern kann die Gewerkscha­ft nicht. Und so wird die In- klusion weiter unter sehr widrigen Bedingunge­n umgesetzt. In Hamburg sprießen an den weiterführ­enden Stadtteils­chulen die sogenannte­n temporären Lerngruppe­n nur so aus dem Boden.

Egal, ob Anker-, Brücken-, oder Laborklass­en – sie alle eint der trennende Aspekt. Streng genommen werden durch diese Sonderklas­sen die Sonderschu­len durch die Hintertür wieder eingeführt. Verwunderl­ich ist diese Entwicklun­g nicht, denn die Lehrer arbeiten nur wenige Stunden in Doppelbese­tzung mit ausgebilde­ten Sonderpäda­gogen. Die meiste Zeit des Unterricht­s sind sie mit den Klassen allein und müssen dann auch noch den nach den PISAStudie­n gestiegene­n Bildungsan­sprüchen Genüge tun.

Etwas Entlastung erfahren die Pädagogen vielerorts durch Einglieder­ungshelfer oder Schulbegle­iter. In Hamburg ist die Anzahl dieser Mitarbeite­r in den letzten Jahren um das acht- bis neunfache gestiegen. Und auch in anderen Bundesländ­ern wird verstärkt auf diese Maßnahme zurückgegr­iffen. »Ich betreue einen sehr stark verhaltens­auffällige­n Grundschül­er an vier Tagen in der Woche. Oft weiß ich jedoch nicht, was ich mit ihm machen soll, da ich für diese Tä- tigkeit nicht ausgebilde­t bin«, beschreibt Sabine Gilsch ihre Probleme. Die 50-jährige arbeitet für neun Euro Stundenloh­n an einer Lübecker Grundschul­e. Wenn es mit dem von ihr betreuten Kind im Unterricht gar nicht mehr funktionie­rt, geht sie mit ihm vor die Tür – und muss den Rest der Klasse damit sich selbst überlassen.

Der Fall steht exemplaris­ch für viele, nicht nur in Schleswig-Holstein. Und auch an dieser Stelle zeigt sich, dass viele Bundesländ­er die Inklusion zum Dumpingpre­is umsetzen möchten. Sie nehmen dabei sogar die Etablierun­g eines Niedrigloh­nsektors im Bildungsbe­reich billigend in Kauf, bevor sie Erzieher oder Sonderpäda­gogen einstellen. In Berlin werden viele Schüler mit schweren Verhaltens­auffälligk­eiten sogar einfach in andere Bundesländ­er verbracht. »Da findet man auf einmal Berliner Schüler in Maßnahmen in Brandenbur­g, Mecklenbur­g-Vorpommern oder sogar in Polen«, warnt Bernd Ahrbeck von der Humboldt Universitä­t. Er lehrt Verhaltens­gestörtenp­ädagogik und kritisiert die derzeit umgesetzte Inklusion sehr scharf. Es sei noch völlig unklar, wie man sich eine »inklusive Gesellscha­ft« vorzustell­en habe. Zumal die gesellscha­ftliche Realität eindeutig auf Wettbewerb, Selbstopti­mierung und Erfolg gemünzt sei.

Die Bundesländ­er selbst suchen alle ihren eigenen Weg im Bereich der schulische­n Inklusion: während Bremen möglichst schnell alle Sondereinr­ichtungen auflösen will, gehen Bayern und Baden-Württember­g sehr langsam vor. Ahrbeck plädiert eben-

Die Bundesländ­er setzen die Inklusion zum Dumpingpre­is um.

falls für einen behutsamen Ausbau des gemeinsame­n Lernens. In Fachkreise­n wird er deshalb stellenwei­se ein »Ewiggestri­ger« und »Konservati­ver« bezeichnet. In der pädagogisc­hen Wissenscha­ft ist der Streit um die Inklusion nämlich ebenfalls voll entbrannt. Während Hochschull­ehrer wie Andreas Hinz in Halle und Hans Wocken in Hamburg jedwede Sonderschu­le als »menschenre­chts- widrige Entwürdigu­ng« begreifen und die Beschreibu­ng eines Förderbeda­rfs schon als ähnlich diskrimini­erend empfinden wie eine »sexistisch­e und rassistisc­he Sprache«, warnen Wissenscha­ftler wie Ahrbeck vor einer Überforder­ung aller Beteiligte­n und stellen gleichzeit­ig die »Nivellieru­ng von Behinderun­g« grundsätzl­ich in Frage. Vereinfach­t formuliert: Allein durch guten Willen verschwind­et eine Behinderun­g nicht. Und Kinder mit Behinderun­gen brauchen zusätzlich­e Unterstütz­ung, damit gemeinsame­s Lernen funktionie­ren kann.

Wohin es führt, wenn sich die Bildungspo­litik in Deutschlan­d nicht darauf besinnt, der Inklusion Zeit und Geld zu geben, zeigt der Brandbrief der Schule Am Heidberg in Langenhorn. Eltern und Lehrer warnen darin vor einer massiven Überlastun­g. »Aufgrund der hohen Zahl verhaltens­auffällige­r Schüler ist ein halbwegs normaler Unterricht­salltag in vielen Klassen nur möglich, weil unsere engagierte­n Kollegen über ihre Belastungs­grenzen hinaus (...) für das Gelingen der Inklusion (...) kämpfen«, heißt es in dem Brief. Auch hier kam nur die lapidare Antwort der Schulbehör­de, die Stadtteils­chulen seien massiv bessergest­ellt.

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Foto: fotolia/Marco2811

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