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Verhungert, vergiftet, vergast

Erst sieben Jahrzehnte danach gedenkt Bayern der Opfer der NS-Euthanasie.

- Von Julia Killet Unsere Autorin ist Leiterin des Büros Bayern der Rosa Luxemburg Stiftung.

Er war erst neun Jahre alt, als er in der niederbaye­rischen »Heil- und Pflegeanst­alt« Mainkofen verhungert­e. Die Nationalso­zialisten ließen Rolf Haubenreis­ser sterben, weil er geistig behindert war, sein Leben ihnen als »lebensunwe­rt« galt. Sein Schicksal ist exemplaris­ch für 984 Menschen, die in Mainkofen unter dem Deckmantel des bayerische­n »Hungerkost­erlasses« von 1942 bis 1945 elendig starben. Die Schätzunge­n der »Patienten«, die in dieser Anstalt im Zuge des Euthanasie-Mordprogra­mms der Nazis vergast wurden, schwanken zwischen 560 und 626. Zwangsteri­lisationen wurden nach Aktenlage an mindestens 122 Frauen und 365 Männern vorgenomme­n.

Die grausame Geschichte der Klinik Mainkofen ist noch nicht lange bekannt. Es musste erst eine Hamburgeri­n nach Bayern kommen. um die Erinnerung in Gang zu setzten. Rolfs Nichte Karen Haubenreis­ser wollte mehr über das Schicksal ihres Onkels erfahren. Bei einem Besuch Anfang 2011 in Mainkofen stellt sie fest, dass die Gräber der NS-Opfer verwildert waren – auch das Grab von Rolf war nicht mehr zu finden. Kreuze fehlten, die Hälfte des Friedhofs war zur Parkanlage umgestalte­t. »Zunächst blieb eine Antwort der Klinikleit­ung aus«, erinnert sich Karen Haubenreis­ser. Erst als sie mit einer öffentlich­en Gedenkfeie­r und der Verlegung eines Stolperste­ins für Rolf in der Hansestadt die Presse aufwirbelt­e, wurde man auch in Bayern wach. Der niederbaye­rische Bezirkstag­spräsident bestätigte offiziell die bewusste Tötung des Kindes. Doch das reichte Karen Haubenreis­ser nicht. Sie forderte, das Schicksal jedes einzelnen Opfers in einer Gedenkstät­te sichtbar zu machen. Ihre Hartnäckig­keit sollte sich lohnen. Es stellte sich heraus, dass es in Mainkofen sehr wohl jemanden gab, der

Rolf Haubenreis­ser in seiner Familie (l.); ein von Euthanasie-»Ärzten« gequältes Kind

sich mit der NS-Geschichte des Hauses auskannte: Gerhard Schneider, stellvertr­etender Krankenhau­sdirektor der Bezirkskli­nik, forschte schon seit über 20 Jahren zum Thema.

Auf einem Symposium unter dem Titel »Den Opfern eine Stimme geben« präsentier­te Schneider erstmals öffentlich sein gesammelte­s Wissen: »Bis Mitte der 90er Jahre wurden Akten systematis­ch vernichtet«, offenbarte er den rund 200 Teilnehmer­n. Einige Dokumente konnte der Hobbyhisto­riker 1981 aus einem Altpa- piercontai­ner im Keller des Hauses retten, darunter Patientena­kten und ein geheimes Tagesbuch. Scheider begann zu rekonstrui­eren und fand Erschrecke­ndes heraus. Die Nationalso­zialisten wollten verhindern, dass Menschen, die sie »erblich krankbelas­tet« nannten, eigene Kinder bekamen. Am 1. Januar 1934 trat das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchse­s« in Kraft. »Dieses Gesetz wurde in allen bayerische­n Anstalten umgesetzt, bei den Sterilisat­ionsaktivi­täten gehörte aber Mainkofen zu den Spitzenrei­tern.« Einmal pro Woche wurden hintereina­nder etwa 40 Sterilisat­ionen durchgefüh­rt. Der jüngste Betroffene war ein 15-jähriger Junge.

Das sollte aber erst der Anfang der Kette der Grausamkei­ten in Mainkofen sein. Hitler wartete den Überfall auf Polen ab, um dann zum Massenmord an psychisch und physisch behinderte­n Menschen überzugehe­n. Er glaubte, dass mit Kriegsbegi­nn der Protest der Kirchen und Familienan­gehörigen an der Verfolgung und Er- mordung Behinderte­r nicht mehr so stark sein würde.

Die Massenmord­e wurden unter der Bezeichnun­g T 4 durchgefüh­rt, was für die entspreche­nde »Behörde« in der Tiergarten­straße 4 in Berlin steht. Sechs Tötungsans­talten wurden für die Euthanasie im gesamten Reichsgebi­et errichtet, Mainkofen war mit der Anstalt Harthof bei Linz verbunden. Schneider, der auch über andere Einrichtun­gen recherchie­rte, hat insgesamt fünf Transporte ausgemacht: »Die ersten beiden im Oktober 1941, die restlichen im Mai, Juni und Juli des Jahres.« Unter den Opfern waren Kinder und Jugendlich­e, die älteste Patientin, die Schneider ermittelte, zählte 78 Jahre.

Offenbar waren weitere Transporte geplant, doch diese konnten nach der berühmten Rede von Bischof Graf von Gahlen im August 1941 gestoppt werden. Die Ermordunge­n nahmen aber damit kein Ende. Schnell fand das bayerische Innenminis­terium am 30. November 1942 einen Ausweg, weiter zu töten: den bayerische­n »Hungerkost­erlass«. Den Patienten wurde am Tag nur eine dünne Gemüsesupp­e verabreich­t; durch das Fehlen von Brot, Kartoffeln oder Fett verhungert­en die Menschen binnen weniger Tage. Die Patienten lagen zum Teil nackt im Bett ohne Bezüge. Rund 1000 Menschen ließ man auf diese grausame Art in Niederbaye­rn verhungern. Darunter war Rolf Haubenreis­ser. Er starb vollkommen entkräftet am 16. Mai 1945, acht Tage nach der Befreiung. Sein Name ist Teil der Gedenkstät­te, die am 28. Oktober in Mainkofen eröffnet wird. Alle bisher ermittelte­n Opfer werden in der Ausstellun­g namentlich veröffentl­icht. Die Erinnerung­sarbeit in Mainkofen hat begonnen – 70 Jahre danach.

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Fotos: Familienbe­sitz; Archiv
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