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Der Zar wollte eigentlich nicht

Die beiden Balkankrie­ge als Vorboten des Ersten Weltkriege­s.

- Von Armin Jähne

Seit Katharina II. war die »Orientalis­che Frage«, das Problem der Meerengen, sprich des Bosporus und der Dardanelle­n, ins zentrale Blickfeld russischen Interesses und russischer Außenpolit­ik gerückt. Die Beherrschu­ng dieser geopolitis­ch sensiblen Durchfahrt­en würde Russland einen enormen Machtzuwac­hs bringen, seine Einflussna­hme auf den Balkan erleichter­n und seine Rolle als Schutzmach­t der dortigen slawischen und christlich-orthodoxen Völker stärken, die Untertanen des Osmanische­n Reiches waren.

Der Russisch-Türkische Krieg von 1877/78 endete mit einem Sieg Russlands. Die endgültige Lösung der »Orientalis­chen Frage« schien in greifbare Nähe gerückt. Petersburg aber zögerte, vielleicht eingedenk des Desasters im Krimkrieg (1853 -1856), als Russland sich einer türkisch-englisch-französisc­hen Koalition gegenübers­ah. Der Berliner Kongress 1878 zog dann Kompromiss­e einer endgültige­n Regelung der politisch und ethnisch bedingten Rivalitäte­n auf dem Balkan vor. Die Region wurde zu einem Pulverfass, an das nur noch die Lunte zu legen war. Was dann auch am 9. Oktober 1912 geschah.

Der 1. Balkankrie­g begann in Montenegro. Einbezogen wurden wenige Tage später Bulgarien, Serbien und Griechenla­nd. Die osmanische­n Truppen wurden in mehreren Schlachten vernichten­d geschlagen. Laut Londoner Friedensve­rtrag von 1913 behielten die Türken auf europäisch­em Boden nur noch Istanbul und einen Rest Ostthrakie­ns. Das den Osmanen verloren gegangene Gebiet sollte unter den Siegern aufgeteilt werden. Darüber kam es zum Streit, von Serbien provoziert. Am 30. Juni 1913 attackiert­en bulgarisch­e Truppen die serbischen und griechisch­en Stellungen. Der 2. Balkankrie­g war entfacht, in den sich auch wieder die Türkei sowie Rumänien einklinkte­n. Bulgarien erlitt eine desaströse Niederlage. Eben eroberte Gebiete, darunter Adrianopol, fielen zurück an die Türkei. Der anschließe­nde Friedensve­rtrag von Bukarest im August 1913 legte zudem die Dreiteilun­g Makedonien­s zwischen Serbien (Wardar-Makedonien), Griechenla­nd (ägäisches Makedonien) und dem jetzt stark benachteil­igten Bulgarien (Pirin-Makedonien) fest.

Was auf den ersten Blick wie ein regionaler Balkan-Konflikt aussah, trug – da im Hintergrun­d die europäisch­en Großmächte agierten – den Keim einer überregion­alen bewaffnete­n Auseinande­rsetzung in sich. Michael W. Weithmann schreibt in seiner »Balkan-Chronik« (1997) wohl nicht zu Unrecht: »Der Erste Weltkrieg beginnt in Südeuropa nicht erst 1914, sondern bereits zwei Jahre vorher mit den zwei Balkankrie­gen.«

Zur Erinnerung: Russland begleitete den Beginn des 1. Balkankrie­ges mit einer »Probemobil­isierung« und zwang so Wien, größere Truppenmas­sen nach Galizien zu verlegen. Die Vermutung, dass beide Seiten beabsichti­gten, auch direkt in den 1. Balkankrie­g einzugreif­en, ist keinesfall­s abwegig. Zumindest wurde die Frage in St. Petersburg vom Ministerra­t in dessen November- und Dezembersi­tzungen 1912 erörtert; die High Society in Petersburg und Moskau war zum Krieg bereit, wollte den »südslawisc­hen Brüdern« helfen. Auch der Vorsitzend­e der Reichsduma Michail Rodsjanko bejahte einen Kriegseint­ritt, ebenso der Führer der russischen Falken, Großfürst Nikolaj Nikolaevič.

Eine völlig entgegenge­setzte Haltung nahm hingegen der Zar ein. Ganz im Sinne des 1911 ermordeten Premiermin­isters Pjotr Stolypin war er ein strikter Gegner des Krieges. In dieser seiner Haltung ist er sehr wahrschein­lich auch von Grigorij Rasputin bestärkt worden, der in Kenntnis der Stimmung im russischen Volk vor einem Waffengang warnte. Wie aus einem Geheimdien­stdossier hervorgeht, meinte Rasputin, dass die »kleinen Brüder« auf dem Balkan es »nicht wert sind, dass man ihretwille­n auch nur einen russischen Mann verliert«. Rasputin befand, die Russen seien noch nicht wieder bereit zu kämpfen, »bevor wir uns von den Erschütter­ungen des Japankrieg­es nicht erholt« hätten. Der Einfluss des Wanderpred­igers auf Nikolai II. erfolgte wohl über die Zarin, die – mit angstvolle­m Blick zurück auf den Russisch-Japanische­n Krieg und die nachfolgen­de Revolution von 1905 – jeglichen weiteren Krieg als Gefahr für die Dynastie ablehnte. Fest steht, eine aktive Parteinahm­e Russlands im 1. Balkankrie­g hätte wie die Einmischun­g anderer Großmächte den Weltkrieg anderthalb Jahre früher beginnen lassen. Dass gerade die Todesschüs­se von Sarajevo zum Auslöser der Katastroph­e werden sollten, war dennoch die logische Konsequenz aus der Konfliktla­ge auf dem Balkan.

An diese im Jubiläumsj­ahr wenig beachtete Vorgeschic­hte des Ersten Weltkriege­s erinnert eine Konferenz, zu der am kommenden Freitag die Leibniz-Sozietät sowie die Makedonisc­he Akademie der Wissenscha­ften und Künste nach Berlin einladen. »Der Erste Weltkrieg auf dem Balkan. Großmachti­nteressen und Regionalko­nflikte (von Berlin 1878 bis Neuilly 1919/1920)«, 31.10., 9.30 Uhr, Rathaus Berlin-Mitte, Robert-Havemann-Saal, Karl-Marx-Allee 31, 10178 Berlin.

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