Überraschender Blick ins Gehirn
Mathematiker bezeichnen Formeln und Ableitungen gern als elegant. Doch können solche abstrakten Gebilde auch schön sein?
Die Frage, was Schönheit ist, wurde im Laufe der Geschichte oft sehr unterschiedlich beantwortet. Gleichwohl dürften die meisten Menschen eines für unstrittig halten: Dem Ideal der Schönheit fühlen sich vor allem Künstler verpflichtet, während das Streben nach Wahrheit in der Mathematik zur höchsten Vollendung gelangt ist. Mathematische Erkenntnisse werden deshalb in der Literatur häufig als elegant bezeichnet, aber in der Regel nicht als schön.
Dabei hatte der deutsche Philosoph Friedrich Wilhelm Joseph Schelling schon 1802 die Feststellung gewagt: »Schönheit und Wahrheit sind an sich und der Idee nach eins.« Vergleichbare Aussagen findet man auch bei einigen großen Mathematikern, zum Beispiel bei Bertrand Russell, der 1902 in einem Essay festhielt: »Mathematik beinhaltet nicht nur Wahrheit, sondern auch allerhöchste Schönheit – eine Schönheit kühl und streng wie die einer Marmorstatue, … von erhabener Reinheit und fähig zu strengster Vollendung, wie sie nur ganz große Kunst aufweist.« Ähnlich euphorisch äußerte sich der Zahlentheoretiker Godfrey Harold Hardy, dessen »Apologie eines Mathematikers« (1940) überdies den lapidaren Satz enthält: »In dieser Welt ist für hässliche Mathematik kein Platz.«
Nun gut, mag der eine oder andere jetzt vielleicht einwenden, wahrscheinlich muss man ein Mathegenie sein, um in abstrakten Formen und Formeln so etwas wie Schönheit zu entdecken. Und überhaupt: Wie sollen Wahrheit und Objektivität einen so variablen subjektiven Eindruck wie Schönheit hervorbringen? Ein Forscherteam um den Neurobiologen Semir Zeki vom University College London ist dieser Frage unlängst auf den Grund gegangen. Und zwar zusammen mit Michael Atiyah, einem der bekanntesten Mathematiker Großbritanniens, der mit der Fields-Medaille (1966) und dem Abel-Preis (2004) die beiden höchsten Auszeichnungen erhalten hat, die in der Mathematik vergeben werden.
Die Forscher gewannen für ihre Untersuchung 15 Mathematiker, deren Aufgabe darin bestand, 60 Formeln auf einer Skala von minus 5 bis plus 5 als hässlich oder schön einzustufen. Zwei Wochen später wurden den Probanden die Formeln erneut vorgelegt, währenddessen ein Magnetresonanztomograph ihre Hirnaktivität aufzeichnete. Ergebnis: Je stärker eine Formel als schön eingestuft worden war, desto höher war die Aktivität im medialen orbitofrontalen Cortex, einer Region des Großhirns, die auch an der Wahrnehmung von Schönheit in Kunst und Musik beteiligt ist. (»Frontiers in Human Neuroscience»«, Bd. 8, S. 1ff.)
Als ästhetisch besonders ansprechend empfanden die Probanden neben dem Satz des Pythagoras eine Formel von Leonard Euler, die die Zahlen 0 und 1 sowie drei fundamentale Konstanten, die Eulersche Zahl e, die Kreiszahl π und die imaginäre Einheit i, miteinander verknüpft: eiπ + 1 = 0.
Wenn er die Wahl hätte zwischen einer mathematisch schönen Theorie und einer hässlichen, die jedoch mit gewissen Versuchsergebnissen übereinstimmte, sagte der Mathematiker Hermann Weyl einmal, würde er sich für die schöne Theorie entscheiden. Auch Atiyah ist überzeugt, dass die ästhetische Wahrnehmung von Mathematikern ein oftmals verlässlicher Wegweiser zur Erkenntnis sei, zumal sich Vermutungen auf mathematischem Gebiet nicht experimentell überprüfen ließen.
An dem geschilderten Experiment nahmen wie gesagt ebenfalls nur Mathematiker teil. Das legt den Schluss nahe, dass deren ästhetische Wahrnehmung von Formeln etwas mit ihrer Berufserfahrung zu tun hat – die natürlich auch in die Irre führen kann. Denn sowohl die Riemannsche Funktionalgleichung, die in der analytischen Zahlentheorie Anwendung findet, als auch die genäherte Darstellung der Zahl π durch den Inder Srinivasa Ramanujan (1887-1920), wurden von den Probanden als eher hässlich eingestuft. Letzteres ist insofern amüsant, als gerade Ramanujan es war, der als Autodidakt den Mathematikern komplizierte Formeln vorlegte, die er selbst nicht beweisen konnte. Dennoch waren viele korrekt. Wie Ramanujan dieses geniale Kunststück fertigbrachte, weiß bis heute niemand so recht zu erklären.