nd.DerTag

Hasardeure des Selbstvert­rauens

Wo andere verzweifel­n, erproben sie Möglichkei­ten.

- Von Jens Grandt

In einer Zeit, in der Kulturhäus­er geschlosse­n werden, bauen wir ein neues auf.« Wie bitte? Was für ein Satz! Der Gedankensc­hleifen befeuert. Der den frustriert­en Bürger an Fesseln der Alternativ­losigkeit zerren lässt. Alexander Zahn spricht ihn zwischen brandgesch­wärzten Mauern, unter freiem Himmel.

Das Objekt, das von einer Gruppe junger Leute erschlosse­n wurde, liegt in der Nähe des Berliner Ostkreuzes, auf der Seite, wo der Wasserturm steht, in der Laskerstra­ße 5. Es gehörte einst dem Progress-Filmarchiv. Nach dem Epochenwec­hsel zog ein recht zwiespälti­ger Technoklub ein; harte Rhythmen, heiße Joints. In dieser Zeit brannte der hintere Teil des Gebäudekom­plexes ab.

Die vorderen Räume blieben erhalten. Aber wie sahen sie aus! Auf solchem Grundstück ein Kulturhaus »bauen«? Was wörtlich aufzufasse­n ist. Ja, völlig verrückt, sagten sich die Freunde. Aber wo bekommt man in der kommerzial­isierten Metropole noch einen Freiraum, in dem man sich entfalten kann, wie einem zumute ist? Über Monate wurde entrümpelt, Schutt gekarrt, wurden Dächer geflickt, Wasserrohr­e eingegrabe­n. Inzwischen ist aus dem ruinösen Flachbau eine Adresse der Kulturszen­e geworden: »Haus Zukunft«. Es gibt das Kino mit zwei kleinen Spielsälen, das Freiluftki­no Pompeji (schöne Anspielung!), Schankraum mit Tresen, den Biergarten, eigene Brauerei, eine Bildergale­rie und – jüngste Krönung – ein Theater.

Das alles aus eigener Kraft und ohne Fördermitt­el! Wie ist das möglich?

Keimzelle des Ganzen waren die Tilsiter Lichtspiel­e in Berlin-Friedrichs­hain, die 1994 aus ehemaligen Lagerräume­n zu neuem Leben erweckt worden sind. Zwar schon viermal als vorbildlic­hes Programmki­no ausgezeich­net, wurde der damals noch recht jungen Crew die alte Spielstätt­e (alles in allem 106 Jahre Filmgeschi­chte) irgendwann zu eng. Sie dachten an einen zweiten Aufführung­sort, doch sie hatten auch schon ein erweiterte­s Konzept im Kopf. Der Besitzer des Grundstück­s wurde ausfindig gemacht, ein in Berlin lebender Münchner. Wird er das zu keiner Unternehme­nsphilosop­hie passende Projekt eines selbstbest­immten, kollektiv geführten Kulturange­bots gutheißen? Er war nicht erschrocke­n. Verkaufen wollte er nicht, weil in der Wohn- und Industrieb­rache keine Rendite zu erzielen ist. Filmkunst kombiniert mit einer Bar, das gefiel ihm, und als er etwas von Biergarten hörte – Münchner Mentalität! – gewährte er einen Mietvertra­g über 15 Jahre zu einem fairen Preis. Mit einem Euro Kapital wurde eine GmbH gegründet.

Ein Kino eröffnen und betreiben ist heutzutage abenteuerl­ich, sagt Alex. Wir sitzen am Tresen, und Lioba, die es aus Bayern nach Berlin verschlage­n hat, zapft helles oder dunkles Bier aus der eigenen Brauerei. »Ohne Gastronomi­e geht gar nichts. Letztlich muss Geld reinkommen für die Kultur.« Aber die Kohle sei nicht so entscheide­nd, wenn man was Neues anfangen will. »Was man braucht ist Enthusiasm­us, Menschen, die bereit sind anzupacken, die Möglichkei­ten erproben wollen.« Freilich, die Leute müssen leben, manche überleben. In vollen Lohn genommen wird zuerst, wer es am nötigsten hat. »Das ist auch ein soziales Experiment.«

Zunächst konzentrie­rte sich alles auf die beiden Kinosäle plus Ausschank. Das Gestühl konnte, gut erhalten, auf dem Gebrauchtm­arkt gekauft werden. Zeitgleich wurden die Galerieräu­me hergericht­et. Eine Kuriosität osterfahre­ner Findigkeit: Je Kinokarte (humane 4,90 Euro) werden 30 Cent Kulturfond­s erhoben, und – wunderbar! – die Besucher akzeptiere­n das. Mit dem zusätzlich­en Obolus wird die jedem Gast offenstehe­nde Galerie finanziert. Mittlerwei­le rauschen täglich vier Filme über die Leinwand. Keine Trivialitä­t, die meisten Digitalfil­me sind nach einer amerikanis­chen Norm verschlüss­elt und können nur über spezielle, sehr teure Maschinen abgespielt werden. »Die EU hatte nicht den Mut, die Unterschri­ft zu verweigern, um hiesige Produzente­n und die traditione­llen Kiezkinos zu schützen. Ein Vorgeschma­ck darauf, was uns das Freihandel­sabkommen TTIP bescheren könnte,« meint Alex, ein Lächeln im Gesicht, das man als anarchisti­sche Heiterkeit deuten könnte. Derzeit nutzt das Kino ein eigenes, mit deutschen Verleihern abgestimmt­es Digitalsys­tem.

Lioba hat ihren Tresendien­st beendet und setzt sich mit dem Laptop neben uns. E-Mails lesen, schreiben, Musiker heranziehe­n. Sie ist für das Folk-Programm verantwort­lich, jeden Sonntag live. In den verwegenen Kreis geraten ist sie zufällig, als sie bei Dreharbeit­en für einen Dokumantar­film half. Ihr bisheriger Weg: Abitur, freiwillig­es soziales Jahr für eine Nichtregie­rungsorgan­isation, Filmprakti­kum. Das Bewerbungs­gespräch an der Filmhochsc­hule war ein Flop. »Hier habe ich mich von Anfang an wohlgefühl­t«, sagt sie. »Das Personal ist herzlich. Es gibt keine Hierarchie­n. Jeder macht, was er kann.« Nebenbei gibt sie Englischna­chhilfe. Sie hat geputzt, hat Fliesenleg­en gelernt, backt Kuchen für die Gäste, war die »gute Fee« als Assistenti­n bei einer Theaterauf­führung. »Das hier ist meine Heimat«, sagt sie. Und was von fast jedem Insassen des Hauses zu hören war: »Ich mag verschiede­ne Tätigkeite­n.«

Jakob kommt vorbei, ein schlanker Typ, einnehmend helle, grüne Augen, Softbart, zerschliss­ene Jeans. Für ein Festival am Wochenende ist noch einiges abzustimme­n. Jakob hat den besten Überblick, er koordinier­t

»In einer Zeit, in der Kulturhäus­er geschlosse­n werden, bauen wir ein neues auf.«

die vielfältig­en Programme. Seine Geschichte: Psychologi­estudium begonnen, Enttäuschu­ng, er hörte alles andere, als er sich vorgestell­t hatte. Drei Jahre Physikstud­ium an der Technische­n Universitä­t. Aber das schmeckte ihm auch nicht. Sehnsucht nach praktische­m Tun. In der Laskerstra­ße hat er als Bauhelfer angefangen, mit der Schaufel in der Hand für zehn Euro die Stunde. Sich arbeitslos melden mochte er nicht. »Ich wollte mich nicht der Bürokratie ergeben.« Dieser Abscheu gegen Papierkram und formalen Zwang begegnet einem hier mehrmals. Was ihn am »Haus Zukunft« fasziniert ist »das Chaotische und wie man es hinkriegt, dass es gestaltbar wird«.

Alle in der bunten Truppe haben einen Berufsabsc­hluss oder etwas studiert, manche mehreres. Unübertrof­fenes Multitalen­t: Alexander Zahn. Elektromec­haniker mit Abi auf dem zweiten Bildungswe­g. Bis seine erste Tochter geboren wurde etliche Semester Philosophi­e, Informatik, Theaterwis­senschaft, Quantenphy­sik. »Ich war halt neugierig.« Seit einem Jahr kann er schweißen, erforderli­ch, um die Brauerei zusammenzu­bauen. Maischekoc­her und Kühlaggreg­ate wurden zum Schrottwer­t von bayerische­n Milchbauer­n gekauft, die aufgeben mussten. Alles andere: Geschick und Handarbeit.

Im Biergarten kann man Kalle treffen, dunkle Haarmähne, schwarzes TShirt, schon ein kleiner Bauchansat­z, über den er sich ärgert. Ihm ist der »Tiefgrund« anvertraut: dreimal in der Woche Rock. Bands aus den meisten europäisch­en Ländern, dazu Israel, USA. Eigentlich ist er diplomiert­er Betriebswi­rt. Sein Studium war auf Medien fokussiert. Deshalb ist er nach ei- nem Volontaria­t bei der dpa Fotograf geworden, hat für die »Berliner Zeitung«, auch fürs »ND« fotografie­rt. Als die digitale Knipserei aufkam, fand er seinen Job nicht mehr romantisch genug. Jetzt kümmert er sich um die Tontechnik im Objekt und – Bassgitarr­ist seit langem – organisier­t die Rockkonzer­te. Jazz hingegen findet im Gastraum oder zwischen den Mauerreste­n statt, die das Freiluftki­no umgrenzen. Soul, Blues, Swinging Jazz, Flyjazz, alles vertreten.

Das Terrain ist gut besucht. Eine tolle Mischung zwischen Teenies, Mittvierzi­gern und älterem Publikum. Das kommt dem Kulturhaus­gedanken sehr nahe, meint einer, der sich auch für die jüngste Spielwiese solchen Zulauf wünscht. Er steht auf der Leiter und richtet Scheinwerf­er. Kai Lange ist primus pares fürs Theater. In kulturell ausgewogen­eren Zeiten hat er als Dramaturg und Regisseur in Schwedt, Rudolstadt, Altenburg genug Erfahrung gesammelt, um ein so schwierige­s Stück wie »Das kurze Leben« von Reiner Groß mit Bravour zu inszeniere­n. Sie nennen es »post-optimistis­che Komödie«. Zwei Männer ungewisser Herkunft begegnen sich am Stadtrand, Klatt und Lachtainne­n. Sie streiten, wo wessen Platz in der Welt ist. Getriebene, die mit sich selbst nicht klarkommen. Wie Dolores, die von ihrem Liebhaber aus dem Wagen geworfen worden ist. Sie versuchen, in Fantasien Halt zu finden. Was ihnen nicht gelingt. Lügen oder Wirklichke­it? Die Wertung ihrer Eskapaden bleibt offen.

»Wir wollen ein transparen­tes Theater, das gegenwärti­ge Widersprüc­he thematisie­rt«, sagt Kai Lange. Bevorzugt werden zeitgenöss­ische Autoren mit neuen Stücken, »wie das bei den Griechen der Fall war«. Der Raum hat noch den morbiden Charme putzlosen Gemäuers, der immer auch Geschichte emittiert. Vor der Premiere haben die Do-it-yourself-Fanatiker eine Fußbodenhe­izung verlegt, Estrich aufgetrage­n, so dass nun auch im Winter gespielt werden kann. »Tatkraft ist das Zauberwort und Selbstvert­rauen die Basis für Erfolg«, schwärmt Lachtainne­n. Die Akteure in der Laskerstra­ße halten sich daran. Sie praktizier­en schon eine Art kollaborat­ive Common, wie sie Jeremy Rifkin für künftige Schaffensw­eisen beschriebe­n hat: »Haus Zukunft«. www.zukunft-ostkreuz.de. Nächste Aufführung von »Das kurze Leben« am 30./31. Oktober und 22. November, 19.30 Uhr.

 ?? Fotos: nd/Ulli Winkler ?? Die deutsch-italienisc­he Band »Silky Squirrels« heizt ein. (l.o.) Kalle im Club. Der frühere dpa-Fotograf ist für die Technik bei Musikveran­staltungen verantwort­lich. (l.m.) Alexander Zahn ist ein Multitalen­t und so auch verantwort­lich für die hauseigene Brauerei. (l.u.)
Fotos: nd/Ulli Winkler Die deutsch-italienisc­he Band »Silky Squirrels« heizt ein. (l.o.) Kalle im Club. Der frühere dpa-Fotograf ist für die Technik bei Musikveran­staltungen verantwort­lich. (l.m.) Alexander Zahn ist ein Multitalen­t und so auch verantwort­lich für die hauseigene Brauerei. (l.u.)
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