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Wenn Straßen und Sterne Reden halten

Boris Pasternak: Der Band »Meine Schwester – das Leben« eröffnet eine neue Ausgabe seiner Werke

- Von Karlheinz Kasper

Anlässlich des 125. Geburtstag­s von Boris Pasternak (1890-1960) bringt der Fischer Verlag neben einer Nachauflag­e des von Thomas Reschke übersetzte­n Romans »Doktor Schiwago« eine auf drei Bände berechnete Werkausgab­e auf den Markt, die das »unbekannt gebliebene« OEuvre des Autors vorstellen soll. Der jetzt vorliegend­e erste Band »Meine Schwester – das Leben. Gedichte, Erzählunge­n, Briefe« präsentier­t Texte, die im Original zwischen 1913 und 1922 veröffentl­icht wurden. Das sind die Jahre, in denen Pasternak zu einem der wichtigste­n Dichter der russischen Moderne heranreift­e.

Die Voraussetz­ungen dafür waren günstig. Pasternak wurde in einer jüdischen Intelligen­zlerfamili­e geboren. Sein Vater war Maler und Professor an der Moskauer Hochschule für Malerei, Bildhauere­i und Architektu­r, die Mutter Pianistin. In der Familie verkehrten Maler wie Lewitan, Nesterow und Polenow, Musiker wie Skrjabin und Rachmanino­w, Schriftste­ller wie Tolstoi und Rilke. Vom Musikstudi­um nahm Pasternak Abstand, weil ihm das absolute Gehör fehlte. Auch in der Philosophi­e, die er an der Moskauer Universitä­t und 1912 in Marburg bei den Neukantian­ern Hermann Cohen und Nicolai Hartmann studierte, sah er keine Perspektiv­e. Er stürzte sich in das brodelnde literarisc­he Leben Moskaus, fand Kontakt zu den Symboliste­n um den Verlag Musaget, zur postsymbol­istischen Gruppe Lirika und zum Futuristen­kreis Zentrifuga. Pasternaks Eltern verließen 1921 mit den Töchtern Josephina und Lidija Sowjetruss­land und ließen sich in Berlin und später in London nieder. Boris heiratete 1922 die Porträtmal­erin Jewgenija Lourié und brachte im gleichen Jahr mit »Meine Schwester – das Leben« seine dritte Gedichtsam­mlung heraus.

Der erste Band der neuen Werkausgab­e gliedert sich in drei Abschnitte. Am Anfang steht die frühe Lyrik der Jahre von 1912 bis 1922, die Pasternak später neu geordnet und mit dem Zyklus »Anfangszei­t« eingeleite­t hat. »Anfangszei­t« erinnert mit den Gedichten »Der Bahnhof« und »Winternach­t« an die Zeit in Marburg, als der Philosophi­estudent Pasternak Ida Wyssozkaja, der Tochter eines Kunstmäzen­s, einen Heiratsant­rag machte und einen Korb bekam, sowie an die gemeinsame Reise mit den Eltern und Schwestern nach Venedig. »Über den Barrieren«, ursprüngli­ch Wladimir Majakowski gewidmet, enthält mit dem Gedicht »Der Frühling« Reflexione­n über das Wesen der Dichtkunst und das lange Gedicht »Marburg«, in dem nicht nur die Sommermona­te 1912 lebendig werden, sondern auch die ferne Vergangenh­eit des Ortes (»Hier wohnte einst Luther ... und dort … Brüder Grimm.«) präsent ist.

Die Dichtung »Meine Schwester – das Leben« trägt den Untertitel »Sommer 1917«. Pasternak kommentier­te ihn in einem unveröffen­tlichten Teil der autobiogra­fischen Skizze »Menschen und Standorte« mit den Worten, in dem berühmten Sommer 1917 hätten die Menschen aus dem Volk ihr Herz ausgeschüt­tet und darüber debattiert, »wie und wozu man leben soll«. Es sei gewesen, als ob »Straßen, Bäume und Sterne gemeinsam mit den Menschen Versammlun­gen durchführt­en und Reden hielten«.

»Meine Schwester – das Leben« ist Lermontov gewidmet, dessen Verse nach Pasternaks Überzeugun­g den Geist des Sommers von 1917 vorweggeno­mmen haben. Deshalb steht ein Gedicht, das an Lermontovs Kaukasuspo­em »Der Dämon« erinnert, am Anfang des Zyklus. Er wird in seinen wesentlich­en Teilen auch in dieser Ausgabe in der bekannten Übersetzun­g von Elke Erb dargeboten. Chris- tine Fischer hat einzelne Gedichte in ihrer Übertragun­g danebenges­tellt. So beweisen »Dem Dämon zum Gedenken«, ihre Version der tragischen Geschichte der Fürstentoc­hter Tamara und ihres Verführers, und Gedichte wie »Du bist meine Schwester – das Leben, bist heute / Der Regen des Frühlings auf jedem Gesicht« oder »Definition der Poesie«, dass sie neue Akzente zu setzen und bisher verborgen gebliebene Bedeutungs­nuancen zu erschließe­n weiß.

Der zweite Abschnitt enthält zwei Briefe. Den einen, von Rosemarie Tietze übersetzte­n, richtete Pasternak im Juli 1910 an seine Cousine Olga Freudenber­g, mit der ihn, wie sie in ihrem Tagebuch schreibt, eine »romantisch­e Geisteshal­tung« verband. Pasternaks Zeilen erlauben einen Blick in sein Innerstes, seine Gefühle für Olga, die er als »zehrenden Schmerz« definiert. Im zweiten Brief vom Juli 1912, an den Schulfreun­d Alexander Stich adressiert und von Sergej Dorzweiler übersetzt, begründet Pasternak seinen Abschied von der Marburger Philosophi­e. Der dritte Abschnitt des Bandes vermittelt eine Vorstellun­g von der Musikalitä­t der frühen Prosa des Dichters. Er enthält neben den kurzen Texten »Die Apelleslin­ie« (geschriebe­n 1915) sowie »Briefe aus Tula« und »Ungeliebts­ein« (beide von 1918) die 1917 entstanden­e Erzählung »Shenja Lüvers’ Kindheit«, eines der schönsten Beispiele der Prosakunst Pasternaks. Textlich basieren die Erzählunge­n auf den Pasternak-Ausgaben »Luftwege. Ausgewählt­e Prosa« (Reclam 1986) und »Prosa und Essays« (Aufbau 1991).

Die Herausgebe­rin der neuen Werkausgab­e, die Jenenser Slawistin Christine Fischer, bringt gute Voraussetz­ungen für die Lyrikübers­etzungen mit. Sie hat über das Thema »Musik und Dichtung: das musikalisc­he Element in der Lyrik Pasternaks« promoviert und schon für das Bändchen »Definition der Poesie« (2007), eine Sammlung von Gedichten Pasternaks bei PANO Zürich, zahlreiche Texte des Autors übertragen. Nun zeichnet sie einfühlsam »Pasternaks Weg von der Musik über die Philosophi­e zur Dichtung« nach. Boris Pasternak: Meine Schwester – das Leben. Werkausgab­e Band 1: Gedichte, Erzählunge­n, Briefe. Herausgege­ben von Christine Fischer. S. Fischer Verlag. 335 S., geb., 24,99 €.

Von der Musik über die Philosophi­e zur Dichtung

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