Der Wald und die Liebe. Bieitos Zugänge zu Schiller. Der Wald als Leuchten und Flirren und als sturmbewegte Finsternis.
Er und die Kaserne – das ist die wahre deutsche Klassik. Ja, der Wald und die Kaserne. Undurchdringlichkeit zieht uns an, so, wie auch schärfste Ordnungsfolter uns Deutsche neurotisch besetzt – weil wir nur wirklich lieben können, was uns Furcht einflößt? Grimms Märchen, Webers Freischützenfest, Jüngers Waldgänger, Heiner Müllers Hydra: das Dickicht als Kerker, das Dunkel als Züchtigungsstimmung, die Bäume ein einziges Strammstehen. Und noch grünst-liebliche Schonungen sind insofern Exerzierplätze, als dort die geschützt wachsende Natur doch einzig auf das Schonungslose, das Ungeschützte alles Existierens vorbereitet wird: Das Starke tilgt das Schwache; zum Lichte drängt zwar alles, aber nicht alle schaffen es, es gibt immer auch ein elendes Verkrümmen und Verkümmern in den Kaltschatten, im Unterholz. Jedes Waldes, jeder Welt.
Der Mensch ein Teil der Natur? Überlegt sich, wer diesen Satz mit mahnendem Demutspathos sagt, was eigentlich diese Eingemeindung des Vernunftwesens ins Natürliche bedeutet? Sie bedeutet (auch!), dass der Mensch Teil des evolutionären – Gro- bianismus bleibt. Denn: Natur ist gewalttätig, sie merzt aus, sie hat kein Gefühl fürs Kraftlose. Wie der Mensch, der liebt. Liebe ist schönste Gewalt, schön im günstigen Falle, Gewalt immer. Denn immer liebt von Zweien einer mehr als der andere – und wer stärker liebt, gibt mehr hin und gibt mehr von sich auf, und ist also immer der Schwache, der Ausgelieferte, der Verlorene.
In Calixto Bieitos Inszenierung von Friedrich Schillers »Die Räuber« am Nationaltheater Mannheim, dem Uraufführungsort des Stücks (1782), wächst am Ende eine Menge Mensch aus Nacht und Nebel. Ein Wald aus Schattengestalten, der kommt und steht, der steht und steht, wie die Zombies aus John Carpenters Film »Fog – Nebel des Grauens«. Hier, zwischen diesen stocksteifen Leibern, in diesem Wald aus Schweigen, wird sich das Blutdrama vollenden. Es stürzt ins Bodenwasser der Vorbühne, es zieht das Messer über den nackten Bauch des alten Vaters Moor, es zertritt Amaliens Cello, es legt die Seidenschnüre um den Mädchenhals, es wirft sich Amalie über die Schulter und schleppt sie, wohl zur Leichenschändung, lüstern nach hinten. Franz liegt auch tot, und Wort für Wort, Mord um Mord, Schrei um Schrei verwandelt das Drama den Bruder Karl in einen Schlammund Schmutzkörper, dem längst die Zigarre ausging, und sein langes Haar lodert nicht mehr, es klebt verwahrlost.
Der Wald und die Liebe. Bieitos Zugänge zu Schiller. Der Wald als Leuchten und Flirren und als sturmund wetterbewegte Finsternis auf der Videowand des Bühnenhintergrunds.
Der Wald wie dies in uns: das Rauschende, das Himmelsstrebende, das Verwurzelte, das Hölzerne, das Finstere. Ein Reh wird im Großbild weidmännisch ausgenommen; da, das schemenhafte Bild eines Blattes, das zu Boden fällt. Nein, später wird’s deutlicher: Blut tropft. Diese Kreatur als Kommentar zum Räuber Karl, der die Welt wieder an zerschnittene Kehlen gewöhnen will. Der Wald als Schlacht-Feld, das Schlachten als Holzweg; auf der Bühne aber nur: das Haus des alten Moor, ein kleiner Käfig aus dünnen Holzstreben, wie eine Streichholzbastelei – gleichsam eine Vergewaltigung des Waldes. Viele Räuberszenen gestrichen. Ausgetragen wird einzig der familiäre Krieg zwischen Bruder Franz und Bruder Karl, zwischen Franz und Amalie, zwischen Amalie und Karl, zwischen Vater und Söhnen. Tote Gemüter. Zitternd an der Grenze, wo die Verdrängungspanzer wegknallen.
Karl, Hauptmann der Abtrünnigen, ist nie wirklich ein aufrührerischer Leitstern, ihm durchmischen sich Lebenskraft und Absage zur Pein, die ihn übersteigt – bis zu einer Liebesunfähigkeit, die er für Moral hält. Sascha Tuxhorn als intriganter Bruder Franz überzeugt durch einen tiefen Ernst des ungerecht empfundenen Daseins, und Katharina Hauter – ihr rosa Kleid ein Farbflattern im kalt metallischen Grau der Bühne – ist jene Liebende, die zu sehr und zu entschieden und zu vertrauensbereit liebt, um nicht ausgelöscht zu werden.
Die Familie als Keimboden des Wachstums in die Gesellschaft oder aus ihr heraus. Der genetische Bescheid wie eine Fernbedienung, mit der das Schicksal uns Stolpernde, Suchende durch die Zeiten zappt. »Vor den Vätern sterben die Söhne« schrieb Thomas Brasch, denn Kinder schleppen die Psychodepots ihrer Erzeuger. Das Übervatertum zum Beispiel. Den Ehrgeizdruck. Die Vorbildfolter. Die Lebensernstpeitsche. Den alten Moor lässt Jacques Malan als erschlafften Unterhemdenhäusling schlurfen – von einstiger gräflicher Wesensschärfe nur noch ein Blubbern der trüben Einsicht, seine Söhne zerrieben, zerstört, vernichtet zu haben. Noch ein paar letzte Lederriemenschläge gegen Franz, die aber nur dem Schläger Kräfte stehlen.
Schillers Stück, in dem keine Mutter vorkommt, als Porträt der Prägungen. Vielleicht wollte mancher, der Revolutionär wurde, nur einfach ausbrechen? Vielleicht war dem, der sich inbrünstig in eine kämpfende Masse warf, lediglich zu lange eine Herzenswärme verweigert worden? Gefühlte Einsamkeit schafft die kühl rechnenden Kollektivisten. Die Geschichte der Räuberbanden und anderer Radikalismen, von kommunistischen Zirkeln bis zu den Achtundsechzigern, von Sehnsuchtsromantikern bis zu Sektierern: Es bleibt gefährlich, kräftige politische Wirkungen auf unbedingt politische, gar edle Motive zurückzuführen – das Verträumte kann im Verklemmten keimen, das Heroische kann aus sehr privatem Korn wachsen, und das Bö- se verteidigt sich nicht selten mit dem Satz, man habe es doch nur gut gemeint.
Der Zorn? Für den Katalanen Bieito keine Sendbotengröße, so wie Schiller kein Revolutionsdichter ist. Ach, der Zorn. Er torkelt wie eine vergessene Sehnsucht durch die politischen Zustände dieser Welt. Er ist der verlassene, verstoßene Partner der Träume, die an den Schlaf der Welt rühren wollten. Der Zorn, der einst reinen Tisch machen sollte mit den Bedrängern, trägt nun den Schmutz der Geschichte im Leumund. Ein sperriges Erinnerungsstück in den revolutionären Gesinnungen, die belehrt zur Ruhe kamen – oder höchstens noch in trotzigen Seminaristenhirnen spuken. Wo der Zorn noch auftritt, tritt er als Desperado auf, als Sprengmeister einer verfluchten Zunft, die Flugzeuge in Häuser lenkt und Bomben zündet.
Die Räuber mitreißende Rebellen? Boris Konecznys Spiegelberg (unfähig, auf den Fingern zu pfeifen!), mit Krawatte und Reisetasche, ist eher ein Auftragskiller, ein grobschlächtig wendefähiger Handlungsreisender in Sachen mafiotischer Dienstleistungen, die reibungslos zwischen Untergrund und Zivilsektor wechseln. Und Julius Forster als Roller gibt die abstoßende Studie eines bluthandbefleckten Brillen-Bubis, den jede Gewalttat in einen aufgegeilt kichernden Lüstling verwandelt – der zurückgesetzte Blässling als perverser Voyeur.
Calixto Bieito ist als Regisseur der Eindeutige, der Unverblümte, der Psychobohrer im Dämmer des Unbewussten, und mitunter war er auch nur der blutsturzbesoffene Symbolist. Just dies wird er hier nicht. Fast seltsam. In den Videobildern vom toten Reh erschöpfen sich die Zwangsvorstellungen der Regie von notwendigem Ekel und unbedingter Abstoßung. Und besagter Wald aus Zombies – Räuber, Gespenster, Wiedergänger – verschwindet schließlich wieder, weicht wieder nach hinten, löst sich auf im Schatten, der er selber ist. Karl Moor hockt nun verlassen an der Rampe, erstarrt hinter der kleinen Flamme eines Feuerzeugs, das er lange in die Höhe hält. Ein Lebenslicht. Sein Lebenslicht. Er lässt das Feuerzeug zuschnappen. Wie vielleicht eine letzte Hoffnung zuschnappt: Das Leben verwirklichte seine Verheißungen nicht, vielleicht verwirklicht der Tod seine Drohungen nicht. Nächste Vorstellungen: 28. Juni, 4., 7., 12. Juli