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71-Jährige nimmt Flüchtling­e auf

Ehemalige Lehrerin gab ägyptische­n Kopten Zuhause und Deutschunt­erricht

- Dpa/nd

Viele anerkannte Flüchtling­e suchen in Berlin private Unterkünft­e. Der Bedarf ist enorm, die vorhandene­n Wohnungen sind knapp.

Viele Wohnungsbe­sichtigung­en hat Micheal Tadros hinter sich. Nun sitzt er mit seiner Frau Samar Salama entspannt im Wohnzimmer von Helga Köhler – ihrer Vermieteri­n, die für sie viel mehr ist als das. Im März 2014 ist das junge Paar aus Ägypten in das alte Jugendstil-Haus in Tempelhof gezogen. Seitdem prangen ihre Namen auf dem stummen Portier. Als koptische Christen waren die beiden in ihrem Heimatland nicht mehr sicher und flohen nach Deutschlan­d. An die Flucht schloss sich eine langwierig­e Wohnungssu­che an, während der die 20-Jährige und ihr 22 Jahre alter Mann in Wohnheimen und Hostels wohnten. Kaum Sprachkenn­tnisse und ein unsicherer Aufenthalt­sstatus machten die Suche nicht einfacher.

Andere Flüchtling­e stehen derweil noch Schlange vor der Beratungss­telle »Wohnungen für Flüchtling­e« des Evangelisc­hen Jugendund Fürsorgewe­rks (EJF). Hier werden seit Februar 2014 im Auftrag des Landesamte­s für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) städtische und seit November auch private Wohnungen an Flüchtling­e vermittelt. Außerdem helfen die Sozialarbe­iter bei der eigenständ­igen Wohnungssu­che.

Der Bedarf ist enorm. Etwa 3830 Menschen sind momentan bei der Beratungss­telle wohnungssu­chend gemeldet. Das sind etwa 1700 Haushalte. Bereits um halb acht stehen die ersten Interessen­ten vor der Tür, erzählt Leiterin Sophia Brinck. »50 bis 60 Leute kommen im Schnitt pro Tag.« Schon jetzt zu viel für die wenigen Mitarbeite­r, und es werden immer mehr.

Betreuung brauchen nicht nur die Flüchtling­e, sondern auch die privaten Vermieter. »Die haben wahnsinnig viele Fragen, sind sich oft nicht so sicher, ob sie das überhaupt machen wollen«, sagt Brinck. Vermieter hätten außerdem häufig sehr konkrete Vorstellun­gen davon, wem sie helfen wollen – am liebsten wäre ihnen, dass potenziell­e Mieter Englisch sprechen, vielleicht sogar schon ein bisschen Deutsch, einen akademisch­en Hintergrun­d haben und aus Syrien kommen.

Auch Köhler hatte konkrete Vorstellun­gen. Ein Pärchen sollte es sein. Am liebsten mit Kindern. Das hat sie bekommen. Salama und Ta- dros erwarten einen Sohn – die Ultraschal­lbilder haben sie Köhler stolz gezeigt. Bei selbst gebackenem Kuchen erzählen sie von zu Hause. Ihr Deutsch ist noch brüchig. Aber es werde immer besser, sagt die 71jährige Vermieteri­n. Am Wohnzimmer­tisch lehnt eine Holztafel mit einer Zeigeruhr. Zweimal die Woche gibt die ehemalige Lehrerin den beiden Ägyptern Deutschunt­erricht. Nach der Uhrzeit kämen nun die Präpositio­nen dran, erzählt Köhler. »Dann müssen wir unbedingt das Verb und die Zeiten machen.«

»Ich habe viele Wohnungen angeschaut. Das ist schwer hier in Berlin«, berichtet Tadros. Der Entschluss, an Flüchtling­e zu vermieten, sei spontan gewesen, sagt die Rentnerin. Sie habe sich gedacht, »die Wohnung ist frei, die Möbel sind da, können wir nicht jemandem helfen«. Gemeinsam mit ihrer Schwester hat sie das ganze Eckhaus geerbt. Ihnen liegt hier jede Kachel am Herzen. Seit dem Tod ihres Mannes lebt die 71-Jährige wieder selbst in dem Haus. Ein Stockwerk höher wohnt ihr Sohn mit seiner Familie. In der 1,5-Zimmer-Wohnung von Salama und Tadros hat Köhler selbst einmal gelebt. In den 50ern. Mit Mutter und Schwester.

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