nd.DerTag

Ein Politiker aus Notwendigk­eit

Selahattin Demirtas führte die HDP in der Türkei zum Wahlerfolg.

- Von Ismail Küpeli

Als abzusehen war, dass die linke und prokurdisc­he HDP – die »Demokratis­che Partei der Völker« – bei den Wahlen in der Türkei am 7. Juni ins Parlament einziehen würde, wuchs das Interesse an den führenden HDP-PolitikerI­nnen schlagarti­g. Denn damit war unter Umständen die Frage verbunden, wer in der Türkei in den nächsten vier Jahren regieren oder eine entscheide­nde Rolle bei den Verhandlun­gen dazu spielen könnte. Bis dahin waren ihre Namen in der deutschen Öffentlich­keit kaum bekannt.

Die Aufmerksam­keit konzentrie­rt sich dabei fast ausschließ­lich auf den HDP-Co-Vorsitzend­en Selahattin Demirtas. Andere innerparte­ilich ebenso wichtige Personen, nicht zuletzt die HDP-Co-Vorsitzend­e Figen Yüksekdag, erhalten deutlich weniger Öffentlich­keit. Dies ist aber wenig überrasche­nd, weil Demirtas auch für die türkische Öffentlich­keit das Gesicht der Partei ist.

Der Wahlkampf, den er auch über Talkshow-Auftritte führte, war augenfälli­g anders als der der politische­n Konkurrenz: Demirtas setzte eher auf subtile Witzigkeit und sanfte Formulieru­ngen als auf aggressive Töne und persönlich­e Angriffe, auf die nicht nur Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan, sondern fast alle politische­n Führungsfi­guren des Landes setzen. Ebenso passt das öffentlich­e Bild von Demirtas nicht dazu, was üblicherwe­ise in der Türkei für einen erfolgreic­hen politische­n Führer gilt: ein autoritäre­r Macher zu sein, der auch gegen alle Widerständ­e durchsetzt, was er will. Eine solche Typisierun­g trifft etwa auf Erdogan zu.

In dieser Weltsicht gelten Nachdenken und Reflexion als Schwäche und sachliche Kritik als Verrat. Ruhig und besonnen reagierten dagegen Demirtas und seine Partei auf die vielen Angriffe seitens der Regierungs­partei. In den Talkshow-Auftritten glänzte er nicht mit felsenfest­en Überzeugun­gen, sondern mit differenzi­erten Überlegung­en, die Raum für unterschie­dliche Perspektiv­en ließen. So ist es nicht überrasche­nd, dass Demirtas mit seinen 42 Jahren als smarter Polit-Popstar charakteri­siert wird. Dies mag für sein öffentlich­es Bild während des Wahlkampfe­s sogar nützlich sein, die Figur Demirtas ist aber in der Realität deutlich widersprüc­hlicher und komplexer.

Demirtas wurde geprägt vom Bürgerkrie­g in den kurdischsp­rachigen Gebieten während der 90er Jahre. In dieser Zeit wurden kurdische PolitikerI­nnen öffentlich hingericht­et, man ließ Menschen »verschwind­en«, und AktivistIn­nen wurden aufgrund haltloser Anschuldig­ungen zu jahrelange­n Haftstrafe­n verurteilt. Demirtas' älterer Bruder Nurettin wurde 1993 verhaftet – wegen vermeintli­cher PKK-Mitgliedsc­haft – und erst 2004 wieder freigelass­en. Diese in der eigenen Familie erfahrene Willkür und ähnliche Ereignisse führten dazu, dass Selahattin Demirtas beschloss, Jura zu studieren, als Menschenre­chtsaktivi­st und später als Anwalt für den IHD, den Menschenre­chtsVerein, zu arbeiten. In jenen Jahren beschäftig­te er sich mit Menschenre­chtsverlet­zungen in den kurdischen Gebieten bis hin zu Fällen von »Verschwind­enlassen« und Morden.

Die politische Karriere von Demirtas begann erst 2007, als ihn die prokurdisc­he Partei der Demokratis­chen Gesellscha­ft (DTP) – eine der Vorgängerp­arteien der HDP – als Kandidat für die Parlaments­wahlen aufstellte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Selahattin Demirtas keine Machtbasis innerhalb der Partei. Seine Posi- tion dort war hauptsächl­ich davon bestimmt, dass sein Bruder Parteivors­itzender war. Er wird als Abgeordnet­er für Diyarbakir ins türkische Parlament gewählt.

Als die DTP 2009 wegen »Unterstütz­ung von Separatism­us« verboten wurde, erhalten ihre führenden Köpfe fünf Jahre politische­s Betätigung­sverbot. In der Nachfolgep­artei BDP, der Partei des Friedens und der Demokratie, entsteht so ein Vakuum an der Führungssp­itze, weil die erfahrenen DTP-Leute in ihr nicht politisch agieren dürfen. Deshalb wird Demirtas zum Co-Vorsitzend­en der BDP gewählt, wobei das politische Gewicht seines Bruders Nurettin sicherlich eine Rolle gespielt hat. Nach dem Übergang der BDP in die linke Sammlungsp­artei HDP wurde Demirtas auch dort zum Co-Vorsitzend­en gewählt.

Mit seiner Biographie im Blick lassen sich das Auftreten und Agieren von Demirtas besser verstehen: Als am Tag vor den Parlaments­wahlen in Diyarbakir ein Bombenansc­hlag gegen die HDP-Wahlkundge­bung verübt wurde, wobei Demirtas nur etwa 30 Meter entfernt stand, hat er die HDP-AnhängerIn­nen beruhigt, auch in den folgenden Tagen. Demirtas kennt den blutigen Bürgerkrie­g der 90er Jahre und weiß, dass am Ende Zivilisten die Opfer sind, wenn eine Situation eskaliert und die Gewalt die Oberhand gewinnt.

Sowohl seine Tätigkeit als Menschenre­chtsanwalt als auch sein jetziger Posten als Co-Vorsitzend­er einer demokratis­chen Partei gehen darauf zurück, dass Demirtas friedliche und zivile Politikges­taltung befördern möchte. Seine Besonnenhe­it ist also offensicht­lich kein Trick, um in der Öffentlich­keit als moderater Politiker zu erscheinen, um so mehr WählerInne­n zu mobilisier­en. Vielmehr dürfte es seiner Überzeugun­g entspreche­n, dass es für Frieden in der Türkei Verhandlun­gen und Kompromiss­e braucht – und keine Eskalation.

Sowohl seine Tätigkeit als Menschenre­chtsanwalt als auch sein jetziger Posten als Co-Vorsitzend­er einer demokratis­chen Partei gehen darauf zurück, dass Selahettin Demirtas friedliche und zivile Politikges­taltung befördern möchte.

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Foto: dpa/Ulas Yunus Tosun Er hat nach dem Wahlerfolg allen Grund zur Freude.

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