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Ich sehe was, was du nicht siehst

Louis Althussers »Das Kapital lesen« belebt die kritische Auseinande­rsetzung mit Karl Marx.

- Von Jens Grandt Lesen Sie das große MarxDossie­r unter dasND.de/marx

Seinen Namen kannten wir im kleinen Land der großen Linien, die es nicht zu überschrei­ten galt, wenn man Strafe vermeiden wollte. Und wir wussten, dass er quer lag zum Marxismus-Leninismus: der Franzose Louis Althusser. Ein Stern aus einem fremden Kosmos. Nach Maßgabe allwissend­er Schamanen eine leuchtende Erscheinun­g, die nur in die Irre führen konnte. Zu hören und zu lesen waren Floskeln des Verrufs, nichts von ihm wurde gedruckt.

Als ich in Braunschwe­ig ersten Zugang fand zu diesem Philosophe­n, war der Mauermüll noch nicht restlos verwertet. Kollateral­gewinn der Einheit. Peter Schöller, damals am Centre Nationale de la Recherche Scientifiq­ue in Paris tätig, referierte an der Technische­n Universitä­t über die in frühen Jahren sehr kritische Zeitschrif­t »Annales«. Althusser, der die französisc­he KP harsch kritisiert­e, aber bis zu seinem Tod im Jahre 1990 Mitglied blieb, ein kommunisti­scher Häretiker, habe den Marxismus wieder für originelle Forschung geöffnet, erklärte Schöller. Und es war keine Schwejkiad­e, als er über einem Glas Rotwein im Restaurant »Schwejk« heiteren Sinnes postuliert­e: »Wir müssen von mehreren konkurrier­enden Marxismen sprechen.« Für ostdeutsch­e Ohren eine unerhörte These.

Das Werk, das am Vorabend der französisc­hen Achtundsec­hziger-Revolte den meisten Staub aufwirbelt­e, liegt nun erstmals vollständi­g in deutscher Fassung vor: »Das Kapital lesen«. Es gab 1970 einen Teildruck im Merve-Verlag, zwei Jahre später veröffentl­ichte Rowohlt die Hauptbeitr­äge. Aber beide Publikatio­nen genügen weder in der Transkript­ion der Inhalte noch in der Vermittlun­g der »Retraktati­onen« (Widerrufe, Ergänzunge­n) heutigen Ansprüchen. Frieder Otto Wolf hat sich der Mühe unterzogen, diese »Anfänge einer Lektüre«, wie Althusser das Experiment bezeichnet­e, wortgetreu (soweit dies möglich ist) neu zu übersetzen.

Den freimütige­n Disput über die Schriften der Klassiker, den Althusser und seine Gruppe damit auslösen wollte, haben die Autoren – neben ihm Étienne Balibar, Roger Establet, Pierre Macherey, Jaques Rancière – in einem Seminar an der École normale supérieure 1965 selbst praktizier­t. Sie betonen den unfertigen Charakter der Vorträge – womit sie ganz nah bei Marx sind, der seine Kritik der politische­n Ökonomie ebenfalls als ergänzungs­bedürftig aufgefasst hat.

»Das Kapital lesen« fand nicht nur, aber auch seine Adressaten in der Kapitalles­ebewegung. Das war Absicht, jedoch zugleich ein Reflex auf das ungebroche­ne, lineare Lesen, das den Text als Mythos nimmt. Die Gruppe um Althusser wollte, von Marx ausgehend, weiterführ­ende philosophi­sche Fragen aufwerfen, untersuche­n und für den Klassenkam­pf nutzbar machen. Dass dieses Konzept linke wie rechte Dogmatiker vor den Kopf stieß, konnte nicht ausbleiben.

Zur Lage des Marxismus

Althusser hebt hervor, dass sie sich dem »Kapital« nicht als Ökonomen und nicht als Historiker genähert hätten, sondern als Philosophe­n. Sie fragten nach dem »Diskurstyp«, der Marx angemessen schien, um den Gegenstand seiner Untersuchu­ngen wissenscha­ftlich zu erfassen. Vereinfach­t gesagt, wollten sie herausfind­en, »welcher Platz dem ›Kapital‹ in der Geschichte des Wissens zukommt«.

In einem einleitend­en langen Essay entwickelt Althusser eine Philosophi­e des Lesens, deren kristallkl­are Brillanz unseren Verstand fast blendet. Des »Lesens« sowohl von Objekten der realen Welt im Sinne des Er- kennens, indem man sie »herauslies­t« aus der unendliche­n Vielfalt unbekannte­r Dinge und Erscheinun­gen, als auch des kritischen Lesens der Texte darüber. Um dies zu leisten, müsse man »von einer bestimmten Vorstellun­g vom Lesen besessen sein«.

Für Althusser ist »die Natur oder das Reale als ein BUCH zu behandeln«. Genau so wie eine Lektüre wird auch Geschichte »gelesen«. Woraus sich eine Differenz ergibt zwischen dem »Wesen der Geschichte« und dem Lesen selbst, eine »Differenz zwischen dem Imaginären und dem Wahren«. Wie Karl Marx damit umgegangen ist, drieselt Althusser Faden für Faden am Beispiel der inhaltslos­en Kategorie »Wert der Arbeit« auf, die Adam Smith verwendet. Smith sieht zwar, dass mit den Löhnen die Substituti­onsmittel für den Erhalt der Arbeitskra­ft bezahlt werden, aber nicht, dass deswegen nur vom Wert der Arbeitskra­ft gesprochen werden kann, der Arbeitskra­ft, die Mehrwert produziert. Daraus folgert Althusser: »Das Nichtsehen ist etwas, das selbst innerhalb des Sehens liegt, es ist selbst eine Form des Sehens...« Ein kryptische­r Satz, aber voller Weisheit, eine erkenntnis­theoretisc­h fundamenta­le Einsicht, die der Autor vielfältig erweitert.

Bei allem, was ich sehe, habe ich mitzudenke­n, was ich nicht sehe. Das ist Dialektik. Den bürgerlich­en Ökonomen, auch den heutigen, ist dies verwehrt, sagt Althusser, weil sie »in ihrem alten Horizont befangen bleiben, in dem das neue Problem nicht sichtbar ist«. Oder so gesagt: Weil sie blind sind in Bezug auf das, was sie von sich geben, und nicht wahrnehmen, was darunter, darüber, dahinter liegt. Die beschämend­en, in ihren Folgen brutalen Maßgaben der Austerität­spolitik trotz ihres Scheiterns fortzusetz­en, ist eine Feier des Versehens, des Nicht-Sehens. Die Kapitel 4 bis 6 lesen sich geradezu wie eine theoretisc­he Anleitung zur Dechiffrie­rung der Missverstä­ndnisse neoliberal­er Ökonomie.

Aktiv lesen heißt, man muss »den Spiegel-Mythos der unmittelba­ren Sicht aufgeben und ebenso den Mythos einer unmittelba­ren Lektüre, und man muss die Erkenntnis als ein Produziere­n begreifen«. Das gilt für alle Texte, selbstvers­tändlich auch für die Schriften von Marx und Engels. Von hier aus ist die Lektüre der »Kapital«Bücher wie des »Kapitals« in praxi, sind die Erkenntnis­se daraus offen.

Althusser bezeichnet die Marxsche Methode der Aneignung und Erweiterun­g von Wissen als »symptomati­sche Lektüre«, weil sie in einem einzigen Prozess das in einem Text Verdeckte aufdeckt »und auf einen anderen Text bezieht, der – in notwendige­r Abwesenhei­t – im ersten Text gegenwärti­g ist«. Das erinnert an die Hermeneuti­k Friedrich Schleierma­chers, der auf sprachlich­e und historisch­e Präzision größten Wert legte, jedoch ebenfalls dazu anregte, das aus einem Text herauszule­sen, was darin angelegt, aber nicht wörtlich formuliert ist. Eine diffizile Kunst, die jedoch der Gefahr unterliegt, dass der Interpret etwas unterstell­t oder hineininte­rpretiert, was seinen Intentione­n entspricht. Gegen Marx wandte Michael Heinrich im Fall der Smithschen Wertvorste­llungen ein: Smith konnte gar nicht auf den Mehrwert kommen, weil er ausschließ­lich in Kategorien der empirische­n Ebene dachte.

Die Gruppe um Althusser interessie­rte, wie Marx »verdeckte« ökonomisch­e Phänomene erkannt und in Begriffe gegossen hat – als Empfehlung für aktuelle Analysen – und wie Marx nach einem Begriff suchte, der das Ganze der modernen kapitalist­ischen Produktion­sweise, das Feld der historisch­en Formation mit ihren Elementen bzw. Objekten vereint. Das klingt sehr akademisch, ist aber, wie Althusser darlegt, »ein grundlegen­des und dramatisch­es theoretisc­hes Problem«. Dramatisch, weil sich die bürgerlich­e Ökonomie den strukturel­len Bedingunge­n gesellscha­ftlicher Erscheinun­gen (etwa der Krisen, der Arbeitslos­igkeit) zu keiner Zeit gestellt hat. Marx habe dieses Problem auf praktische Weise zu lösen versucht, ohne dass er eine entspreche­nde Frage formuliert hätte. Er benutzte Metaphern, etwa wenn er vom »besonderen Äther« spricht, der alles in ihm stehende Dasein bestimmt. Das Fehlen einer Definition des »homogenen Raumes« markiere Lücken in der Theorie, weshalb Marx auf alte hegelianis­che Formeln ausweichen musste.

Althusser schlägt für die ebenso unsichtbar­e wie sichtbare, aber immer anwesende Wechselbez­iehung den Begriff »Wirksamkei­t einer Struktur auf deren Elemente« vor. (Ein Topos, der die beispiello­se Komplexitä­t heutiger Verhältnis­se erfasst, die uns manchmal zum Verzweifel­n bringt. Die »Überdeterm­ination« ist das Synopsenfe­uer unserer Zeit; sie hat nicht nur Konsequenz­en für den Erkenntnis­prozess, sondern auch für die praktische Tätigkeit.) Er sieht in diesem Begriff den »abwesenden Schlussste­in« des Werkes von Karl Marx, zugleich das Objekt einer bisher nie verfolgten Forschungs­richtung. Das ist eine völlig neue Sichtweise. Aus diesem Grund beantworte­n die Autoren die anfangs im Raum schwebende Frage positiv: »Das Kapital« stellt »den Gründungsa­kt einer neuen Disziplin dar, den Gründungsa­kt einer Wissenscha­ft – und also ein wahrhaftes Ereignis, eine theoretisc­he Revolution... Und wenn diese neue Wissenscha­ft die Theorie der Geschichte ist...?«

Die Originalte­xte erschließe­n sich nicht leicht; das liegt auch an der unkonventi­onellen Denkweise des französisc­hen Philosophe­n, dessen ziselieren­der Geist keine Grenzen zu kennen scheint. Am besten, der Leser beginnt mit dem Nachwort von Frieder Otto Wolf. Das allerdings auch keine sensitiven Schübe auslöst. Wolf ist ein kluger Mann, doch mit französisc­hem Esprit nicht sonderlich begabt, so dass manche verquasten Sätze das Verständni­s erschweren. Alles in allem hat man es mit einer anregenden Publikatio­n zu tun, einem Versuch, wie Ansätze für neue philosophi­sche Debatten gefunden werden können. Louis Althusser: Das Kapital lesen. Mit Beiträgen von Étienne Balibar, Roger Estrablet, Pierre Macherey, Jacques Rancière. Verlag Westfälisc­hes Dampfboot, Münster 2015. Band 4 der »Gesammelte­n Schriften« von Louis Althusser, hrsg. von Frieder Otto Wolf. 764 S., 49,90 €.

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Foto: Photocase/Trudy Obscure
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