nd.DerTag

Systemisch­es Versagen

- Jürgen Amendt über den Skandal, dass Tausende von Jugendlich­e durch die Maschen der Sozialund Bildungssy­steme fallen

Dem deutschen Sozial- und Bildungssy­stem musste man einst zugute halten, dass es sich wirklich um alle kümmerte. Der staatliche­n Fürsorge entkam niemand. Wer in der Schule scheiterte, wurde hernach in Bildungsma­ßnahmen gesteckt, in Werkstätte­n beschäftig­t – irgendein Platz in der Gesellscha­ft fand sich für fast jeden. Wer dies nicht wollte, musste in der alten BRD einige Mühe darauf verwenden, dem System zu entfliehen. Das Entkoppeln von den Institutio­nen war an eine individuel­le Absicht gebunden.

Mit den neoliberal motivierte­n »Reformen« der 1990er und Nullerjahr­e hat sich das geändert. Jährlich verlassen Tausende von Jugendlich­en die Schule ohne Abschluss – in Berlin betrug die Quote 2014 über neun Prozent –, doch viele fallen anschließe­nd aus allen Fördersyst­emen heraus. Wer nicht das Glück hat, in einigermaß­en stabilen wirtschaft­lichen familiären Verhältnis­sen zu leben und von seinem sozialen Umfeld unterstütz­t zu werden, gehört schnell zu den sogenannte­n Disconnect­ed Youth. Das aktive Bemühen des Staates um den Nachwuchs endet heute mit dem Ende der Schulpflic­ht. Wer keinen Abschluss hat, muss sich selbst darum kümmern, diesen nachzuhole­n, von den Schulen kann er wenig Unterstütz­ung erwarten.

Die Schulen sind jedoch selbst die Getriebene­n. Die Klassen sind überfüllt, die strukturel­len Probleme groß. So fehlen in Berlin Schulplätz­e für Erstklässl­er und wissen derzeit viele künftige Siebtkläss­ler noch nicht, auf welche weiterführ­ende Schule sie ab August gehen können. Unter diesen Bedingunge­n ist es verständli­ch, dass sich die Schulleitu­ngen nicht noch um Schüler ohne Abschluss kümmern können. Das Entkoppeln von den Institutio­nen ist heute nicht mehr Ergebnis einer individuel­len Absicht, sondern das eines systemisch­en Versagens.

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