nd.DerTag

Der völkerrech­tswidrige Anschluss wurde später völkerrech­tlich sanktionie­rt.

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Sowjetisch­e Truppen marschiere­n 1940 durch die estnische Hauptstadt Tallinn.

In den Geheimprot­okollen des deutsch-sowjetisch­en Nichtangri­ffspaktes vom 23. August 1939 sowie des am 28. September folgenden Freundscha­ftsvertrag­es grenzten die Führungen Nazideutsc­hlands und der UdSSR ihre Einflusssp­hären in Osteuropa ab und setzten diese dann auch kurz darauf durch. Die Rote Armee besetzte 17 Tage nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 die mehrheitli­ch ukrainisch und weißrussis­ch besiedelte­n Ostgebiete, die sodann mit den Unionsrepu­bliken Ukraine und Belorussla­nd »wiedervere­inigt« wurden. Das war ein Bruch der völkerrech­tlichen Festlegung­en des Versailler Vertragssy­stems.

Die nach dem Ersten Weltkrieg aus den ehemaligen baltischen Provinzen Russlands entstanden­en und 1921 in den Völkerbund aufgenomme­nen neuen Staaten Estland, Lettland und Litauen waren ebenfalls zum sowjetisch­en Einflussbe­reich bestimmt worden. Deren faschistoi­de Regime unter Konstantin Päts, Kärlis Ulmanis und Antanas Smetona stimmten unter Druck Moskaus und Berlins im Herbst 1939 Verträgen über gegenseiti­gen Beistand zu, die u. a. die Stationier­ung von 70 000 sowjetisch­en Militärs in Dutzenden See-, Luft und Landstützp­unkten vorsahen. Im Unterschie­d zu Nazideutsc­hland, das bereits im März 1939 das völkerrech­tlich Litauen zugesproch­ene Memel-Gebiet annektiert hatte, waren die Litauer dem Sowjetstaa­t hingegen dankbar, dass er ihnen das 7000 Quadratkil­ometer umfassende und 550 000 Einwohner (davon 76 Prozent Polen und 28 Prozent Juden) zählende Gebiet um Vilnius ein halbes Jahr später »schenkte«. Vor allem in Litauen, aber auch in Estland und Lettland gab es pro- russische Stimmung in der Bevölkerun­g wie in den politische­n Eliten, denn nur dank der UdSSR sei man vom Krieg verschont worden, den die Nazis gegen Mittel- und Westeuropa begonnen hatten.

Da die Beistandsv­erträge auch vom Völkerbund registrier­t wurden, schien die staatliche Unabhängig­keit der drei baltischen Länder unangetast­et. Stalin gab seinen Sicherheit­skräften, Militärs und Diplomaten die strikte Weisung, sich nicht in deren innere Angelegenh­eiten einzumisch­en und keinerlei »revolution­äre Aktionen« gegen die dortigen Regime zu initiieren oder zuzulassen. Er ließ dies auch jene wissen. So sagte er zum lettischen Außenminis­ter Vilhelms Munters: »Ihr traut uns nicht und meint, dass wir Euch erobern wollen. Wir könnten das jetzt sofort tun, aber wir machen es nicht.« Sodann ließ er seinen Gesprächsp­artner wissen, dass in den deutsch-sowjetisch­en Gesprächen im August 1939 die Nazis den in die Ostsee mündenden Fluss Daugava (Düna) zur Grenzlinie zwischen den Einflusssp­hären des Deutschen Reiches und der UdSSR bestimmen wollten, was eine Teilung Lettlands bedeutet hätte. Man sei damit nicht einverstan­den gewesen, betonte Stalin, und habe erklärt, »dass man mit einem Volk so nicht umgehen könnte«. Er fügte hinzu: »Es ist nicht ausgeschlo­ssen, dass die Deutschen ihre Ansprüche wieder erheben werden.«

Die Minderheit der Baltendeut­schen folgte dem »Heim-ins-Reich«Ruf in Hitlers Reichstags­rede vom 6. Oktober 1939. Wer nicht gehen wollte, dem wurde von deutschen und baltendeut­schen Naziführer­n der Ausschluss aus der »deutschen Volksgemei­nschaft« angedroht. Die von Berlin vorerst nur mit den Re- gierungen in Tallinn und Riga vereinbart­en Umsiedlung­sverträge waren »Rechtsgrun­dlage« für die Zwangsumsi­edlung. Insgesamt 83 000 Esten und Letten wurden unter der Regie des »Reichskomm­issars für die Festigung des deutschen Volkstums«, SS-Führer Heinrich Himmler, im deutsch besetzten Polen im sogenannte­n Warthegau als »Reichsbürg­er zur deutschen Aufbauarbe­it« angesiedel­t. Sie bekamen Güter, Bauernhöfe, Fabriken, Arztund Rechtsanwa­ltspraxen, Banken oder Handelsnie­derlassung­en zugesproch­en, die vertrieben­en oder bereits ermordeten Juden und Polen gehört hatten. Die Bankguthab­en der auf Kosten Polens »entschädig­ten« Baltendeut­schen wurden auf ein Sonderkont­o der »Deutschen Treuhand« überwiesen und vom Nazistaat für die Bezahlung der umfänglich­er gewordenen deutschen Rohstoffim­porte aus dem Baltikum genutzt. Im März 1941 wurden auch 50 000 Litauendeu­tsche und 20 000 Litauer, die sich als sogenannte Volksdeuts­che ausweisen konnten, nach Deutschlan­d »repatriier­t«.

Was nun aber bewog Stalin, die Baltenstaa­ten im Frühsommer 1940 militärisc­h zu annektiere­n und seinem Imperium als Unionsrepu­bliken anzuschlie­ßen? Er erkannte das mit der deutschen Besetzung und Vorherrsch­aft in Westeuropa inzwischen rapide veränderte Kräfteverh­ältnis. Die Verlegung großer Wehrmachts­verbände an die Westgrenze der UdSSR ist ihm ebenso nicht entgangen. Er wusste um den systematis­chen und bedrohlich­en Ausbau des deutschen Aufmarschg­ebietes (OttoProgra­mm) vor seiner Nase. Trotz sowjetisch­er Stützpunkt­e im Baltikum setzte das faschistis­che Regime in Berlin samt dem deutschen Fi- nanz- und Industriek­apital alles daran, in den entstehend­en europäisch­en »Großwirtsc­haftsraum« unter deutscher Hegemonie auch die baltische Region einzubezie­hen. Hinzukam, dass die faschistis­chen Regierunge­n Estlands, Lettlands und Litauens sich selbst Hitler als deutsche Protektora­te offerierte­n. Stalin sah darin einen Angriff auf die ihm zugesproch­ene baltische Einflusssp­häre und damit auf die Sicherheit der Sowjetunio­n. Und so ließ er an den Ostgrenzen der baltischen Staaten bis Mitte Juni 1940 Truppen der Roten Armee in einer Gesamtstär­ke von 435 000 Mann, ausgerüste­t mit 3500 Panzern, 2600 Flugzeugen und 800 Geschützen, aufmarschi­eren.

Eine Direktive der Politische­n Hauptverwa­ltung der Roten Armee vom 13. Juni 1940 bestimmte: »Wir werden die Sicherheit der UdSSR gewährleis­ten, die Zugänge zu Leningrad und unsren nordwestli­chen Grenzen vom Meer durch einen festen Riegel verschließ­en. Über die Häupter der herrschend­en volksfeind­lichen Clique in Estland, Lettland und Litauen werden wir Seite an Seite mit den Werktätige­n dieser Völker diese Länder von der ausbeuteri­schen Banden der Kapitalist­en und Großgrundb­esitzer befreien.« Als Anlass zum Einmarsch wurde die ständige Verletzung der Beistandsp­akte mit der Sowjetunio­n durch die Regierunge­n der drei baltischen Staaten genannt.

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