Mit freundlichen Menschen und »goldenen« Zügen auf Tour durch die Schweiz.
Um die Mittagsstunde brachen wir auf und zogen wieder mit frischem und energischem Schritt dem Gipfel zu. Als wir etwa zweihundert Yard weit gekommen waren und rasteten, schaute ich beim Anrauchen der Pfeife nach links und entdeckte in der Ferne einen langen Wurm aus schwarzem Rauch, der träge den steilen Berg hinankroch. Das war natürlich die Lokomotive. Sofort stützten wir uns auf die Ellbogen, um hinüberzustarren, denn wir hatten noch nie eine Bergbahn gesehen. Bald konnten wir den Zug erkennen. Es schien unglaublich, dass dieses Ding einen Hang steil wie ein Hausdach geradezu hinaufkriechen könnte – aber dort war es, und genau dieses Wunder vollbrachte es.«
Die Eisenbahnfahrt, die 1879 für den Schriftsteller Mark Twain bei seinem »Bummel durch Europa« so wundersam war, unternimmt Klaus Hess heute täglich mehrmals. Er sitzt im Führerstand des »langen Wurms«, aus dem längst kein schwarzer Rauch mehr herausquillt. »Ich begrüße Sie auf der Fahrt zur Königin der Berge«, ruft er gut gelaunt seinen Fahrgästen zu. Die Königin, die majestätisch bis auf 1800 Meter hinaufragt, ist die Rigi. Ein Berg, umgeben von drei Seen – dem Lauerzer, Zuger und Vierwaldstätter. Vom Gipfel aus sind 13 Seen zu sehen. Und ein ganzes Meer aus Gipfelzacken. Bei optimaler Fernsicht können 24 der 26 Schweizer Kantone erspäht werden.
Klaus Hess hat seit drei Jahren einen der schönsten Arbeitsplätze auf einem der schönsten Verkehrsmittel der Schweiz. Wie kommt man dazu? »Ich arbeitete 30 Jahre im gleichen Betrieb und gehe auf die 50 zu. Da überlegt man sich, ob man noch 20 Jahre dasselbe machen will.« Klaus Hess wollte nicht. Zufällig wurde bei den Rigi-Bahnen eine Stelle ausgeschrieben – als Lokführer und Schreiner. Alle Lokführer haben dort einen zweiten Beruf, können so auch in der Werkstatt eingesetzt werden – als Schreiner, Elektriker, Mechaniker, Maler. Vier- bis fünfmal täglich ist er auf Gipfeltour. Seine Fahrgäste kommen aus Europa, Amerika, Japan – aus der ganzen Welt. »Alles, was Beine hat, geht auf die Rigi. Sehen Sie die Landschaft, dann wissen Sie, warum.« Welche Fahrgäste sind ihm die liebsten? »Die fröhlichen Leute.« Sagt es, steigt in seinen Führerstand und bringt seine Fahrgäste zurück ins Tal.
Die »Königin der Berge« inspirierte 1775 auch den jungen Goethe zu einer Liebeserklärung. »Es war ein nie gesehener, nie wieder zu schauender Anblick und wir verharrten lange ... und rings die Herrlichkeit der Welt.« Aber während der beim Aufstieg zwischen Fußmarsch und Esel wählen konnte, hatte Mark Twain schon die Qual der Wahl. Die verdankte er einem »irren« Franzosen. Als Niklaus Riggenbach die erste Bergbahn Europas auf die Rigi plante, hielten ihn selbst Fachleute für nicht zurechnungsfähig. Doch der ließ sich nicht beirren und im Mai 1871 bahnte sich die erste Zahnradbahn Europas ihren Weg von Vitznau nach Rigi Staffelhöhe. Zwei Jahre später schnaufte der Zug hoch auf die Rigi. Inzwischen fährt auch eine Bahn von Goldau auf den Berg. Die Rigi-Bahn befördert jährlich mehr als eine halbe Million Menschen. Mit dem »Verharren ... und rings die Herrlichkeit der Welt« ist das aber heute so eine Sache. Die modernen Verkehrsmittel, zu denen sich längst auch viele Seilbahnen gesellten, sorgen für einen wahren Gipfelsturm. Damit man bei der Abfahrt von der »Königin der Berge« den Zielort nicht verwechselt, leuchten die Bahnen nach Vitznau in Rot und die nach Goldau in Blau.
Quirlig geht es nicht nur auf der Rigi zu. Bunt auch das Treiben von Menschen aus aller Welt in Luzern. Stadtführerin Jeanette Schmidlin erzählt, dass erst die Rigi einst Luzern bekannt machte. »Die Leute gingen zu Fuß auf den Berg, sahen von oben Luzern und meinten: Das ist ja auch ein schönes Städtchen.« Für Jeanette ist die »Königin« einer der schönsten Berge überhaupt. Doch genauso liebt sie ihr Luzern. »Hier ist das ganze Jahr was los. Es ist so schön, zu wohnen, wo andere Urlaub machen.« Es ist Sonnabend, Wochen- und Flohmärkte füllen die Stadt zusätzlich. Der Weg über die Kapellbrücke ist von Touristen verstopft. Dort steht der Wasserturm – komplett vom Wasser der Reuss umgeben. Er ist der einzige achteckige Turm der Schweiz, um 1300 als Wachturm errichtet. Die Kapellbrücke wurde im August 1993 ein Raub der Flammen. Innerhalb von zwölf Minuten war sie zerstört, die Feuerwehr gab die Brücke – die längst wieder aufgebaut ist – verloren. Sie rettete aber den Wasserturm, der zu explodieren drohte. Die Brandursache ist bis heute unklar. Brandstiftung wird vermutet, doch, so Jeanette Schmidlin, wurde das Kapitel nach zehn Jahren zu den Akten gelegt.
Luzern ist auch der Start für das nächste Zug-Abenteuer durch die Schweiz. Es ist eine »goldene« Zeitreise – nach Montreux am Genfer See. Mit einem Zug der GoldenPass Line geht es zunächst nach Interlaken. Dann nach Zweisimmen. Dort ein letztes Umsteigen in den Zug nach Montreux. Unterwegs steigt Niklaus Mani zu, der für das Marketing der GoldenPass Line verantwortlich ist. Auf der Stecke zwischen Luzern – über den Brünigpass (1001 Meter ü.M.) – und Montreux überwinden die Züge 879 Höhenmeter. Der tiefste Punkt ist Montreux mit 395 Meter ü.M., der höchste Saanenmöser in der Nähe von Gstaad mit 1274 m ü.M.
Mit Niklaus Mani geht es von Montreux aus hoch hinaus. Die letzte Etappe unserer Reise beginnt. Sie endet hoch oben auf 2042 Metern auf dem Rochers-de-Naye. Dort geht es gemächlicher zu als auf der quirligen Rigi. Das ist nicht immer so. Im Dezember wohnt hier der Weihnachtsmann, im Juli findet jedes Jahr das Jazzfestival – das UNESCO-Weltkulturerbe ist – statt. In den Zügen sor- gen dann Jazzbands für eine einzigartige Atmosphäre. Nach Claude Nobs, dem 2013 verstorbenen Mitbegründer und langjährigen Leiter des Festivals, wurde vor wenigen Tagen eine Station auf dem Weg zum Rochers-deNaye benannt. Niklaus Mani ist übrigens genauso ein Eisenbahnfan wie es Claude Nobs war.
Im Zug auf den Berg sitzt auch eine Gruppe junger Männer – bewaffnet mit diversen Getränken. Wird die Nacht so ruhig wie gehofft? Sie wird es. Die Jungs haben sich ein feiersicheres Quartier gesucht. Aus ihrer mongolischen Jurte dringt kein Ton nach draußen. In jeder der Jurten, die seit fast zehn Jahren auf dem Berg neben dem Hotel stehen, haben acht Leute Platz. Die sieben »Mongolenzelte« sind allerdings begehrt. Rechtzeitige Reservierung – vor allem für die Weihnachtszeit – ist zu empfehlen. Die Jungs kommen am nächsten Morgen sehr müde aus ihren Jurten und machen sich ans Aufräumen. Die Murmeltiere schauen zu.