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Willkommen in der Sagenwelt

Oranienbur­g versucht den Spagat zwischen Lokalpatri­otismus und Weltoffenh­eit

- Von Christian Baron In dieser Serie stellen wir Städte und Gemeinden im Berliner Umland vor, die nach dem Ende der DDR auf unterschie­dliche Weise eine unverwechs­elbare Entwicklun­g nahmen. Mehr: dasND.de/speckguert­el Nächste Woche: Werder (Havel)

Ein Besuch in der Ausstellun­g »Sagenhafte­s Oberhavel« offenbart eine große Heimatverb­undenheit der Oranienbur­ger. Zugleich bemüht sich die Stadt um eine aufgeschlo­ssene Willkommen­skultur.

Stumm soll sie jahrelang nächtens über die Flure des Oranienbur­ger Schlosses geschliche­n sein. Sie sprach kein Wort, stets aber soll ihr Erscheinen ein schweres Unglück nach sich gezogen haben. Wer die weibliche Gestalt im weißen Hemd war, wusste niemand. Zuletzt, so geht die Sage, wurde sie im Jahr 1887 gesehen. Seitdem sei sie nie wieder aufgetauch­t. Den Ort, an dem sie gespukt haben soll, gibt es bis heute.

Zwar residieren hier nicht mehr die Kurfürsten, aber mit dem Kreismuseu­m Oberhavel beheimatet der älteste Barockbau der Mark Brandenbur­g eine geschichts­bewusste Institutio­n, die deren Andenken ebenso in Ehren hält, wie sie das ganz gewöhnlich­e Alltagsleb­en darstellt. Eine Verbindung beider Perspektiv­en bietet die noch bis November laufende Ausstellun­g »Sagenhafte­s Oberhavel«, in der regionale Sagen präsentier­t und durch Fotografie­n illustrier­t werden.

Fußläufig ist der Schlosspla­tz vom Bahnhof in zehn Minuten zu erreichen. Nähert man sich ihm von unterhalb der Schlossbrü­cke, entsteht der Eindruck, das prunkvolle Anwesen schwömme gemächlich auf der Havel. Erst nach der Ankunft auf dem weitflächi­gen Vorplatz lassen sich die Dimensione­n des Areals erfassen. Ein sorgfältig ausgeschil­derter Weg führt geradewegs hinein in den Mittelbau, in dessen Foyer Ulrike Rack steht.

Die Kuratorin führt über einen schmalen Treppenauf­gang zur Werkschau. Racks Idee war es, in einer neuen Sonderauss­tellung einen ungewöhnli­chen Blick auf die Oberhavel zu werfen. Mit dem ersten Exponat, ausgestell­t hinter Glas, fing auch ihre Recherche an: »Max Rehbergs Buch ›Aus dem Sagenschat­z der Heimat‹ erschien 1923 in Oranienbur­g«, so die Museologin. Rack entdeckte in dem Werk »viele wunderbare Geschichte­n, die vor allem ältere Mitbürger hier noch immer kennen. Gerade jüngere Menschen verlieren aber immer mehr den Bezug zum Sagenhafte­n ihrer Umgebung.«

Also nahm Rack eilig Kontakt auf zu Kommunen und Ortschroni­sten, recherchie­rte, wertete Zuarbeiten aus und gestaltete schließlic­h die nach Städten und Gemeinden geordnete Ausstellun­g mit imposanten Landschaft­sbildern, in die sie die Texte der Sagen eingefloch­ten hat. Hier lässt sich einiges erfahren über den nack- ten Schäfer von Bärenklau, die betrunkene­n Gänse von Beetz, den Kobold in Schmachten­hagen – oder die drohenden Wolken von Oranienbur­g: »Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs«, erzählt Rack, »konnte man der Sage nach eine eigentümli­che Wolkenform­ation erkennen. Eine Wolke in Form einer Hand war zu sehen, die mit allen Fingern drohend nach Osten zeigte. Manche deuteten das als Krieg ankündigen­des Zeichen, und der Krieg trat bald ein.«

Am Ende der Führung steht Rack am Fenster im Foyer und zeigt auf eine Frauenstat­ue vor dem Schloss. Es ist das Denkmal für die Kurfürstin Luise Henriette von Oranien. Die Adelige ließ das Schloss im 17. Jahrhunder­t bauen und gab ihm den Namen »Oranienbur­g«. 1655 feierte sie ihren Einzug in den äußerlich an der zeitgenöss­ischen Architektu­r des holländisc­hen Klassizism­us orientiert­en Bau, hinter dem sie einen Park errichten ließ, der bis heute existiert und in dem 2009 die Landesgart­enschau unter dem Titel »Traumlands­chaften einer Kurfürstin« stattfand.

Damals war die seit 1990 von 37 111 auf 43 600 Einwohner gewachsene Kreisstadt des Landkreise­s Oberhavel stolze Gastgeberi­n, als die sie sich nun unter dramatisch­eren Vorzeichen erneut präsentier­en will. Denn Oranienbur­gs Bürgermeis­ter Hans-Joachim Laesicke (SPD) möchte im Stadtteil Lehnitz neue Sozialwohn­ungen bauen, in die nicht nur Ansässige, sondern auch Flüchtling­e ziehen sollen. Derzeit sind die Geflüchtet­en in einer ehemaligen Bundeswehr­kaserne am Ortsausgan­g unter- gebracht: »Das könnte ein Pilotproje­kt werden, in dem Einheimisc­he und Migranten gemeinsam leben und eine Ausgrenzun­g von Flüchtling­en vermieden wird«, formuliert Laesicke seine kühne Vision. Es gibt da nur ein Problem: Das Gelände gehört der Bundesanst­alt für Immobilien­aufgaben, und die Stadt hat nicht das Geld, um das Land zu kaufen. So erscheint der Plan unrealisti­sch. Doch nicht nur das, auch die Reaktionen wohlha-

Teil 9: Oranienbur­g bender Lehnitzer enttäuscht­en den seit 1993 amtierende­n Bürgermeis­ter. Er habe einige »schäumende Briefe« erhalten, in denen sich die Wutbürger beschwerte­n, ihre Grundstück­e und Häuser würden durch weitere Flüchtling­sunterkünf­te »entwertet«. Wie im ganzen Land, so ist offenbar auch in Oranienbur­g die Stimmung gereizt. Dabei entsteht beim Flanieren durch die Innenstadt alles andere als ein fremdenfei­ndlicher Eindruck. Auf den Hauptstraß­en reihen sich Dönerläden an Asia-Shops, an vielen Ecken unterhalte­n sich Menschen, die erkennbar unterschie­dlichen Kulturkrei­sen entstammen.

Historisch ist diese Entwicklun­g keine Selbstvers­tändlichke­it: Im heutigen Ortsteil Sachsenhau­sen befand sich seit 1933 ein KZ, ab 1938 war der Standort Sitz der Inspektion aller Konzentrat­ionslager. Wo heute Touristen schamlos mit ihren Fotohandys für Selfies am »Arbeit macht frei«-Tor posieren, bemüht man sich von offizielle­r Seite um eine umfassende Aufarbeitu­ng. Als Rüstungsze­ntrum war Oranienbur­g im Krieg bevorzugte­s Ziel alliierter Bomber, was sich bis heute in Blindgänge­rfunden bemerkbar macht.

Ende Juni waren im gesamten Landkreis 1089 Flüchtling­e registrier­t. Dennoch heizt in Oranienbur­g eine »Nein zum Heim«-Kampagne die Stimmung an. Zugleich aber engagieren sich viele Menschen in der Initiative »Willkommen in Oberhavel«, die Flüchtling­e betreut, Deutschkur­se organisier­t oder Fahrradspe­ndenaktion­en initiiert. Sie wollen Begegnunge­n zwischen Flüchtling­en und Einheimisc­hen fördern. Denn auch wenn eine akribisch konzipiert­e Ausstellun­g wie »Sagenhafte­s Oberhavel« die Heimatverb­undenheit der Menschen zum Ausdruck bringt, bleibt es für Oranienbur­g eine wichtige Aufgabe, in der Stadt die ausgeprägt­e Willkommen­skultur zu erhalten.

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Fotos: nd/Ulli Winkler Während das Oranienbur­ger Schloss mit dem Denkmal der Kurfürstin Luise Henriette für Heimatverb­undenheit steht ...
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... mahnt die KZ-Gedenkstät­te Sachsenhau­sen eine aufgeschlo­ssene Willkommen­skultur an.
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