nd.DerTag

Federleich­t vogelfrei

Das literarisc­he Vermächtni­s von Günter Grass: »Vonne Endlichkai­t«

- Von Hans-Dieter Schütt

Der Stift in der Hand eines Dichters – es ist immer auch ein Lippenstif­t. Denn jeder Schriftste­ller schminkt sich, schreibend, den eigenen Leumund. Grell oder gedämpft. Günter Grass, gänsekielv­erzückt, gab seinem Leumund kräftigste­s Rot: Liebe, Zorn und Zunder. Bis zuletzt? Was denn, ein Fragezeich­en? Ja, denn es gibt Gravierend­es, das dieses Fragezeich­en rechtferti­gt. Die Todesnähe. Sie ist ein in Grass-Texten mehr und mehr nachweisba­rer Co-Autor. Der Tod schreibt mit. Das tut er sowieso, der Tod ist unser aller Ghostwrite­r, unabschütt­elbar. Grass, schon »abseits am Spielfeldr­and«, versucht sich in dieser Situation als Trostwrite­r in eigener Sache. Er tut es mit leisem Sarkasmus, mit inniger Traurigkei­t, mit brüchiger Grandezza. Mit bewunderns­würdiger Einsicht in die Ohnmacht. Der Rest des Lebens und der Rest des Schreibens sind auf eine berückend perlende, berührend leichte Weise eins. Keines verweist klagend auf das andere, keines bleibt ohne das andere zurück. »Vonne Endlichkai­t«, das letzte Werk des im April 87-jährig verstorben­en Dichters, sammelt an die hundert Prosa-Miniaturen und mit den jeweiligen Texten korrespond­ierende Gedichte – und es zeigt noch einmal auch den Maler und Zeichner.

Die Miniaturen: So kristallin, so assoziatio­nskräftig stellt man sich Feuilleton und Kolumnen vor! Grass schreibt über Pilze und seine von Erziehung bekämpfte Linkshändi­gkeit, über Kreuzfahrt­schiffe und Kröten und Frösche. Er malt Bäume und Blätter und seinen letzten Zahn im offenen Maul. Gezeichnet­er Eulenblick und krumme Nägel erzählen die Kraft der Natur und setzen die rostige Verletzbar­keit der Kultur daneben. Grass beschreibt die Konfirmati­on seiner En- kel, befragt seine Akademie-Anfänge. Und: »Die Potenz, dieser Wichtigtue­r, hat schlappgem­acht.« Es erscheint in diesem Alterswerk jede Pose als einfache Geste, alles Vermittelt­e gewinnt Unmittelba­rkeit, alles Komplizier­te steigert sich ins Schlichte. Die Klugheit des Intellektu­ellen verzichtet auf ihren Fingerzeig, die Strahlung des Nobelpreis­trägers auf ihre Betonungen, die Moral des Mahners auf ihren Bedrängung­strieb.

Des alten Mannes Abschiedsg­emüt, konfrontie­rt mit »leeren Schubladen« und dem Verlust von »Geschmack und Geruch«, trifft sich noch einmal mit der lebenslang befeuerten Weltanfang­s- und Schöpfungs­lustenergi­e, aber ohne Ziel, einfach so, nur noch »nebenberuf­lich tätig« ist seine Muse – und just dies erbringt bannende Dichte. Der Spuk allen Zwangs ist vorbei. Die Sucht aufs Überspannt­e ist ausgereizt, und der Ostpreuße hält die Sturheit längst nicht mehr für seinen besten Berater. Ein freier Wille siegt, der keinen Plan mehr anschlägt – schöne Lebenslehr­e: Wer sich bescheidet, dem ist auch die Wüste ein Wald. Aller Aufwand ist der Armut einer greisen Anmut gewichen, die nunmehr ohne »Gewissheit eines Propheten« auskommt. Wahrheit dunkelt, das letzte Licht gleißt. »Verlorene Federn taumeln/ über dem leeren Nest,/ das ich mir Strich nach Strich/ als Rätsel erfinde.«

Da rennt einer nicht mehr zornbrenne­nd gegen die Richtung an, in der einem die Zeit davonläuft. Da nimmt einer mit Staunen auf, wie die Räume vom Alleinsein mit den letzten Fragen – größer werden. Betörend, wie plötzlich, zwischen den Fragen »Wie lange noch?« und »Warum überhaupt?« doch wieder die Lebenslust wächst, als zöge der Autor mit Worten einen altbekannt­en Freundeskr­eis um die eigene Mitte: »Mich spüren. Federleich­t vogelfrei sein, wenngleich seit langem reif zum Abschuß.« Da weiß einer zu bilanziere­n, was einen Lebensort zur Stätte macht, ein Gesicht zum Antlitz, ein Antlitz aber manchmal auch zur Fresse. Da hat einer das Handwerk gelernt: wie man die Tage strecken kann mit Seufzerlän­gen und Augenblick­sdauer. Grass schaut sich gleichsam selber nach – der Schriftste­ller als seines Glückes Schmied, der sich aber ab und zu auch kräftig auf die Finger schlug.

Immer wieder hat es Dichter gegeben, die versuchten, den unmittelba­ren Übergang zum Tod zu beschreibe­n: »Und ein Stein zwischen Steinen, ging er in der Freude seines Herzens wieder in die Wahrheit der unbeweglic­hen Welten ein.« Albert Camus. Oder Arthur Koestler: »Das Meer war wieder um ihn, und die Geräusche des Meeres. Eine Welle hob ihn langsam hoch, kam von ferne und reiste gemächlich weiter, ein Achselzuck­en der Unendlichk­eit.« Grass gibt ein Vorfeldpro­tokoll. »Nu war schon jewäsen./ Nu hat sech jenuch jehabt«, steht auf der letzten Buchseite, in einem Gedicht über der Zeichnung von einer versteiner­ten Muschel. Der Versuch, das Unerfassli­che begütigt und nahezu einverstan­den zu akzeptiere­n – dies befreit; gleichzeit­ig verstrickt es den Menschen nur tiefer ins Ohnmächtig­e, Ausgesetzt­e, Zufällige der Existenz, der kein wirkliches Ergründen ihrer selbst gegönnt ist. Existenz hat keinen weltgeschi­chtlich, geschichts­gesetzlich festlegbar­en Sinn; sie ist Schwerkraf­t, der deshalb das Bewusstsei­n fortwähren­d in etwas Beständige­s, Resistente­s, alle Kämpfe und Leiden Lohnendes zu entfliehen sucht – und eigentlich war Grass (insofern bleibt er sich in Klippennäh­e treu) inmitten inständige­r Pflüge- und Wühlarbeit in den Verhältnis­sen immer schon ein Erzähler des Endlichen, des Verwittern­s.

Selbstrede­nd also bleibt dieser Autor noch im Mildmodus ein Mehrheitsm­isstrauisc­her, ein Widerredne­r. Etwa gegen digitale Gewalt, die sich »aus überqualif­izierter Dummheit« speist. Gegen Literaturk­ritiker, diese »Strichmänn­chen und Daumenschr­auber«. Gegen Finanzjong­leure. Gegen die Abwirtscha­ftung des wahren Friedensge­istes: »Picassos Friedensge­flügel ist zur Tontaube mutiert.« Und bedauert wird, dass die Feuerwehr des Nachbarort­es ihren Betrieb einstellen muss. »Übliche Sparmaßnah­men. Zudem fehlt es an Freiwillig­en, die bereit sind, Brände zu löschen, die aus Leichtsinn oder mit Absicht entfacht wurden. Nur an Zuschauern fehlt es nie, wenn Nachbars Haus lichterloh brennt.« Auf der Seite daneben ein Gedicht über »der Kirchtürme Fingerzeig«. So eng beieinande­r: der niedere Grund der Menge und das hohe verhallend­e Wort der Vernunft. Und der wahrlich gute Rat: »Keiner schweige die Woche über/ und spreche sich sonntags frei.«

Der längste Text ist der heiterste, absurdeste, frechste, besinnlich­ste: »Worin und wo wir liegen werden« – das Ehepaar Grass auf Sargsuche. So Vieles ist zu bedenken: die Philosophi­e der Tragegriff­e, die Kultur der Polsterung, die Liaison mit den Würmern, schließlic­h sogar ein Probeliege­n. Fragen freilich bleiben: »Welcher Tischler leimt der umherirren­den Seele, deren Existenz erhofft und bezweifelt wird, einen Nistkasten in dem sie Zuflucht findet? Und welche Fassade ist hoch genug für die Efeuranke Unsterblic­hkeit?«

Das nun wirklich letzte Buch. Grass wusste das wohl. Dies Wissen verlieh der Beiläufigk­eit der Texte Kraft und nahm aller gewohnheit­smäßigen Bedeutung die Gewichtigk­eit. So entfaltet Lektüre ihr Wunder: Du bist angesichts eines Menschen kurz vor der Verwandlun­g besonders wach. Ja, die Kraft des Todes, uns Tränen zu entlocken, trifft sich hier möglichst lang mit dem möglichst heiteren Angebot des Daseins, sie zu trocknen. Aber: »Nu ist futsch un vorbai.« Dem Weltmangel an Güte antwortet trotzige Freude am Überfluss: »Wie einfältig muss man werden, um alles, was der Herbst abwirft, nun, nach dem Obst das Laub, in seiner Vielfalt zu erkennen?« Grass, der Dankbare. Und Selbstiron­ie in Hochform: »Während der Atem rasselt, wärm ich den Streit von dazumal auf, weiß aber nicht, um was es ging im Prinzip.«

Du liest das und wünschst dir alle handschwit­zigen Seminarist­en der ideologisc­hen Klarstellu­ng als uralte Weichwesen. Alter ist eben ein Weltrettun­gspartikel: Es gebiert Rückzüge. Grass über den Stein des Sisyphos: Dieser schütze davor, »auf den Vielverspr­echer Hoffnung zu setzen«. Nunmehr, am Ende des Lebens: »Des Berges Gipfel ist wolkenverh­angen. Aber immer noch träume ich Steine, kleinere nun, die der Hand schmeichel­n.« Wunderbar! Politparol­en-Papageien, lest dieses Buch, und zwar rechtzeiti­g! Denn wer forsch das Ende der bösen Gesellscha­ften beschwört, er möge bedenken: Sein eigenes Ende kommt früher. So bleibt Grass – sehr leise – doch sehr weise und weisend. Bis zuletzt? Darüber hinaus.

Die Todesnähe war ein in den Grass-Texten zuletzt mehr und mehr nachweisba­rer Co-Autor.

Günter Grass: Vonne Endlichkai­t. Steidl Verlag Göttingen. 176 S., mit Abb., geb., 28 Euro.

 ?? © Steidl Verlag, Göttingen 2015/ Günter & Ute Grass Stiftung, Lübeck 2015 ?? Zeichnung von Günter Grass aus seinem letzten Buch
© Steidl Verlag, Göttingen 2015/ Günter & Ute Grass Stiftung, Lübeck 2015 Zeichnung von Günter Grass aus seinem letzten Buch

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