Federleicht vogelfrei
Das literarische Vermächtnis von Günter Grass: »Vonne Endlichkait«
Der Stift in der Hand eines Dichters – es ist immer auch ein Lippenstift. Denn jeder Schriftsteller schminkt sich, schreibend, den eigenen Leumund. Grell oder gedämpft. Günter Grass, gänsekielverzückt, gab seinem Leumund kräftigstes Rot: Liebe, Zorn und Zunder. Bis zuletzt? Was denn, ein Fragezeichen? Ja, denn es gibt Gravierendes, das dieses Fragezeichen rechtfertigt. Die Todesnähe. Sie ist ein in Grass-Texten mehr und mehr nachweisbarer Co-Autor. Der Tod schreibt mit. Das tut er sowieso, der Tod ist unser aller Ghostwriter, unabschüttelbar. Grass, schon »abseits am Spielfeldrand«, versucht sich in dieser Situation als Trostwriter in eigener Sache. Er tut es mit leisem Sarkasmus, mit inniger Traurigkeit, mit brüchiger Grandezza. Mit bewundernswürdiger Einsicht in die Ohnmacht. Der Rest des Lebens und der Rest des Schreibens sind auf eine berückend perlende, berührend leichte Weise eins. Keines verweist klagend auf das andere, keines bleibt ohne das andere zurück. »Vonne Endlichkait«, das letzte Werk des im April 87-jährig verstorbenen Dichters, sammelt an die hundert Prosa-Miniaturen und mit den jeweiligen Texten korrespondierende Gedichte – und es zeigt noch einmal auch den Maler und Zeichner.
Die Miniaturen: So kristallin, so assoziationskräftig stellt man sich Feuilleton und Kolumnen vor! Grass schreibt über Pilze und seine von Erziehung bekämpfte Linkshändigkeit, über Kreuzfahrtschiffe und Kröten und Frösche. Er malt Bäume und Blätter und seinen letzten Zahn im offenen Maul. Gezeichneter Eulenblick und krumme Nägel erzählen die Kraft der Natur und setzen die rostige Verletzbarkeit der Kultur daneben. Grass beschreibt die Konfirmation seiner En- kel, befragt seine Akademie-Anfänge. Und: »Die Potenz, dieser Wichtigtuer, hat schlappgemacht.« Es erscheint in diesem Alterswerk jede Pose als einfache Geste, alles Vermittelte gewinnt Unmittelbarkeit, alles Komplizierte steigert sich ins Schlichte. Die Klugheit des Intellektuellen verzichtet auf ihren Fingerzeig, die Strahlung des Nobelpreisträgers auf ihre Betonungen, die Moral des Mahners auf ihren Bedrängungstrieb.
Des alten Mannes Abschiedsgemüt, konfrontiert mit »leeren Schubladen« und dem Verlust von »Geschmack und Geruch«, trifft sich noch einmal mit der lebenslang befeuerten Weltanfangs- und Schöpfungslustenergie, aber ohne Ziel, einfach so, nur noch »nebenberuflich tätig« ist seine Muse – und just dies erbringt bannende Dichte. Der Spuk allen Zwangs ist vorbei. Die Sucht aufs Überspannte ist ausgereizt, und der Ostpreuße hält die Sturheit längst nicht mehr für seinen besten Berater. Ein freier Wille siegt, der keinen Plan mehr anschlägt – schöne Lebenslehre: Wer sich bescheidet, dem ist auch die Wüste ein Wald. Aller Aufwand ist der Armut einer greisen Anmut gewichen, die nunmehr ohne »Gewissheit eines Propheten« auskommt. Wahrheit dunkelt, das letzte Licht gleißt. »Verlorene Federn taumeln/ über dem leeren Nest,/ das ich mir Strich nach Strich/ als Rätsel erfinde.«
Da rennt einer nicht mehr zornbrennend gegen die Richtung an, in der einem die Zeit davonläuft. Da nimmt einer mit Staunen auf, wie die Räume vom Alleinsein mit den letzten Fragen – größer werden. Betörend, wie plötzlich, zwischen den Fragen »Wie lange noch?« und »Warum überhaupt?« doch wieder die Lebenslust wächst, als zöge der Autor mit Worten einen altbekannten Freundeskreis um die eigene Mitte: »Mich spüren. Federleicht vogelfrei sein, wenngleich seit langem reif zum Abschuß.« Da weiß einer zu bilanzieren, was einen Lebensort zur Stätte macht, ein Gesicht zum Antlitz, ein Antlitz aber manchmal auch zur Fresse. Da hat einer das Handwerk gelernt: wie man die Tage strecken kann mit Seufzerlängen und Augenblicksdauer. Grass schaut sich gleichsam selber nach – der Schriftsteller als seines Glückes Schmied, der sich aber ab und zu auch kräftig auf die Finger schlug.
Immer wieder hat es Dichter gegeben, die versuchten, den unmittelbaren Übergang zum Tod zu beschreiben: »Und ein Stein zwischen Steinen, ging er in der Freude seines Herzens wieder in die Wahrheit der unbeweglichen Welten ein.« Albert Camus. Oder Arthur Koestler: »Das Meer war wieder um ihn, und die Geräusche des Meeres. Eine Welle hob ihn langsam hoch, kam von ferne und reiste gemächlich weiter, ein Achselzucken der Unendlichkeit.« Grass gibt ein Vorfeldprotokoll. »Nu war schon jewäsen./ Nu hat sech jenuch jehabt«, steht auf der letzten Buchseite, in einem Gedicht über der Zeichnung von einer versteinerten Muschel. Der Versuch, das Unerfassliche begütigt und nahezu einverstanden zu akzeptieren – dies befreit; gleichzeitig verstrickt es den Menschen nur tiefer ins Ohnmächtige, Ausgesetzte, Zufällige der Existenz, der kein wirkliches Ergründen ihrer selbst gegönnt ist. Existenz hat keinen weltgeschichtlich, geschichtsgesetzlich festlegbaren Sinn; sie ist Schwerkraft, der deshalb das Bewusstsein fortwährend in etwas Beständiges, Resistentes, alle Kämpfe und Leiden Lohnendes zu entfliehen sucht – und eigentlich war Grass (insofern bleibt er sich in Klippennähe treu) inmitten inständiger Pflüge- und Wühlarbeit in den Verhältnissen immer schon ein Erzähler des Endlichen, des Verwitterns.
Selbstredend also bleibt dieser Autor noch im Mildmodus ein Mehrheitsmisstrauischer, ein Widerredner. Etwa gegen digitale Gewalt, die sich »aus überqualifizierter Dummheit« speist. Gegen Literaturkritiker, diese »Strichmännchen und Daumenschrauber«. Gegen Finanzjongleure. Gegen die Abwirtschaftung des wahren Friedensgeistes: »Picassos Friedensgeflügel ist zur Tontaube mutiert.« Und bedauert wird, dass die Feuerwehr des Nachbarortes ihren Betrieb einstellen muss. »Übliche Sparmaßnahmen. Zudem fehlt es an Freiwilligen, die bereit sind, Brände zu löschen, die aus Leichtsinn oder mit Absicht entfacht wurden. Nur an Zuschauern fehlt es nie, wenn Nachbars Haus lichterloh brennt.« Auf der Seite daneben ein Gedicht über »der Kirchtürme Fingerzeig«. So eng beieinander: der niedere Grund der Menge und das hohe verhallende Wort der Vernunft. Und der wahrlich gute Rat: »Keiner schweige die Woche über/ und spreche sich sonntags frei.«
Der längste Text ist der heiterste, absurdeste, frechste, besinnlichste: »Worin und wo wir liegen werden« – das Ehepaar Grass auf Sargsuche. So Vieles ist zu bedenken: die Philosophie der Tragegriffe, die Kultur der Polsterung, die Liaison mit den Würmern, schließlich sogar ein Probeliegen. Fragen freilich bleiben: »Welcher Tischler leimt der umherirrenden Seele, deren Existenz erhofft und bezweifelt wird, einen Nistkasten in dem sie Zuflucht findet? Und welche Fassade ist hoch genug für die Efeuranke Unsterblichkeit?«
Das nun wirklich letzte Buch. Grass wusste das wohl. Dies Wissen verlieh der Beiläufigkeit der Texte Kraft und nahm aller gewohnheitsmäßigen Bedeutung die Gewichtigkeit. So entfaltet Lektüre ihr Wunder: Du bist angesichts eines Menschen kurz vor der Verwandlung besonders wach. Ja, die Kraft des Todes, uns Tränen zu entlocken, trifft sich hier möglichst lang mit dem möglichst heiteren Angebot des Daseins, sie zu trocknen. Aber: »Nu ist futsch un vorbai.« Dem Weltmangel an Güte antwortet trotzige Freude am Überfluss: »Wie einfältig muss man werden, um alles, was der Herbst abwirft, nun, nach dem Obst das Laub, in seiner Vielfalt zu erkennen?« Grass, der Dankbare. Und Selbstironie in Hochform: »Während der Atem rasselt, wärm ich den Streit von dazumal auf, weiß aber nicht, um was es ging im Prinzip.«
Du liest das und wünschst dir alle handschwitzigen Seminaristen der ideologischen Klarstellung als uralte Weichwesen. Alter ist eben ein Weltrettungspartikel: Es gebiert Rückzüge. Grass über den Stein des Sisyphos: Dieser schütze davor, »auf den Vielversprecher Hoffnung zu setzen«. Nunmehr, am Ende des Lebens: »Des Berges Gipfel ist wolkenverhangen. Aber immer noch träume ich Steine, kleinere nun, die der Hand schmeicheln.« Wunderbar! Politparolen-Papageien, lest dieses Buch, und zwar rechtzeitig! Denn wer forsch das Ende der bösen Gesellschaften beschwört, er möge bedenken: Sein eigenes Ende kommt früher. So bleibt Grass – sehr leise – doch sehr weise und weisend. Bis zuletzt? Darüber hinaus.
Die Todesnähe war ein in den Grass-Texten zuletzt mehr und mehr nachweisbarer Co-Autor.
Günter Grass: Vonne Endlichkait. Steidl Verlag Göttingen. 176 S., mit Abb., geb., 28 Euro.