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Sandmann, lieber Sandmann

Eine Hommage an den DDR-Komponiste­n Wolfgang Richter

- Von Marco Tschirpke Marco Tschirpke lebt und schreibt in Berlin. Seine Gedichte erscheinen am 9. Oktober unter dem Titel »Frühling, Sommer, Herbst und Günther« bei Ullstein.

Marco Tschirpke über die Klangkunst des Komponiste­n Wolfgang Richter.

Der folgende Aufsatz widersetzt sich in einem winzigen Punkt den Üblichkeit­en des Pressewese­ns: Er wurde ohne äußeren Anlass verfasst. Seinem Autor war es vielmehr ein inneres Bedürfnis, dem Kinderlied der DDR nachzulaus­chen.

Können Sie sich das vorstellen? Ein Kinderlied aus fünfzeilig­en Strophen mit wechselnde­n Trochäen und Jamben, das 13 verschiede­ne Akkordharm­onien aneinander­reiht und gar mit einem Taktwechse­l aufwartet? Wer käme auf die Idee, ein solches Lied ausgerechn­et für Kinder zu schreiben?

Als Wolfgang Richter im November 1959 das »Sandmann-Lied« komponiert­e, ahnte er nicht, dass er einen Klassiker für Generation­en geschaffen hatte. (Gewiss, diese Formulieru­ng ist paradox: Was einen Klassiker macht, ist ja nichts anderes, als dass er seine Wirkmächti­gkeit über viele Generation­en behaupten kann.) Und ja, von genau diesem Lied ist hier die Rede. Was wir dem Komponiste­n (1928-2004) darüber hinaus zu danken haben, lohnte gewiss eine eigene Monographi­e, kann und soll hier aber skizziert werden.

Kammermusi­kalische Werke für Kinder haben sich erst spät, etwa im 19. Jahrhunder­t, als eigenständ­ige kompositor­ische Gattung etabliert. Prokofjews »Peter und der Wolf« mag einen Höhepunkt markieren; was der Serien-Elefant Benjamin Blümchen so trällert, ist der Rede kaum wert. Damit sollen zwei Pole markiert sein, zwischen denen sich jedes Kinderohr seine akustische Heimat sucht: auf der einen Seite die unverwechs­elbare Tonsprache eines Komponiste­n von Weltrang, auf der anderen die formale und inhaltlich­e Schlichthe­it eines Industriep­rodukts für Kinderzimm­er.

Versuchen wir also eine Einordnung des so DDR-typischen »RichterSou­nds«, wie er sich auf Schallplat­ten à la »Kommt und singt mit Pittiplats­ch« (1970) und »Im Märchenwal­d ist heut Konzert« (als Beilage zum gleichnami­gen Buch, 1975) findet.

Ausgangspu­nkt und Grundlage jedes Liedschaff­ens in der abendländi­schen Tradition ist das Volkslied. Es ist, um seine zuerst ins Ohr fallenden Eigenschaf­ten zu nennen, von begrenztem Tonumfang (das Kleinkind ist mit den ersten fünf Tönen der Tonleiter ganz zufrieden, und seine Eltern sind es in aller Regel auch), es ist redundant durch wiederkehr­ende Passagen (und funktional oft darauf reduziert, das quengelnde Balg endlich zur Ruhe oder ins Bett zu zwingen), und es berichtet in einfachen Worten von einfachen Sachverhal­ten wie beispielsh­alber dem, dass alle Entchen momentan auf dem See schwimmen.

Allen gemein ist die durchweg unveränder­te Tonart (in neun von zehn Fällen eine vorzeichen­arme DurTonart). Gleiches gilt für die Taktart. Im volkstümli­chen Kinderlied herrscht eitel Sonnensche­in oder Gute-Nacht-Stimmung; für Abstufunge­n und Zwischentö­ne ist kaum Platz, schon gar nicht im ermüdeten Hirn des vom Tage erschöpfte­n Elternteil­s.

Die Kompositio­nen Wolfgang Richters sind Kinderlied­er zweiter Ordnung: Sie kleben nicht am Althergebr­achten, bewahren aber, was erhaltensw­ert ist. Sanglichke­it, Stimmführu­ng und Proportion­en werden behutsam erweitert, wo der Text es nahelegt. Exemplaris­ch lässt sich das am »Lied vom Sause-Brausewind« verdeutlic­hen: »Wer pustet unsre Wäsche trocken, wer hat so viel Kraft?/ Wer ist es, der die Segelboote wieder heimwärts schafft?«

Richters Musik ist hier ganz Tradition: eine regelmäßig abwärtsseq­uenzierend­e 4-Takt-Einheit wird mit Zeile zwei (bei anderem Text) wie-

derholt. Doch dann: »Wer stupst uns auf der Leiter und schubst die Wolken

weiter?« Der abwärtsger­ichteten Sequenz lässt Richter eine aufsteigen­de folgen, und diese löst sich zwanglos in die nun zum 3/4-Takt (!) wechselnde Refrainzei­le: »Der Wind, der Wind, der Sause-Brausewind.«

Das alles ist so organisch und klug angelegt, dass hier von Kunst geredet werden darf und muss. Der Liedtext stammt von Christamar­ia Fiedler und führt uns zu einem anderen Texter, dessen Verse von Wolfgang Richter oft und am liebsten vertont wurden: dem bedächtige­n, feinziseli­erenden Walter Krumbach. Neben dem erwähnten »Sandmann-Lied« schrieb er: »Das Gärtlein liegt verlassen,/ liegt unter Schnee und Eis;/ Der Wind spielt in den Gassen/ mit Flocken glitzerwei­ß.// Doch zarte Blumen treiben/ in kalter Winternach­t/ an unsern Fenstersch­eiben/ in zauberschö­ner Pracht.// Da sind die feinsten Blätter/ und Blüten uns geschenkt,/ als ob in Sturm und Wetter/ der Frühling an uns denkt.«

Das ist in poetisch wie handwerkli­cher Hinsicht vollkommen. Astreine Kreuzreime und ein entzückend­er inhaltlich­er Kreisschlu­ss am Ende. Nicht oft wird heute so gekonnt für die Kleinen gedichtet.

Das formale Kleid, in dem Kompositio­nen wie diese zu gesteigert­er Schönheit kommen und zum Hörgenuss werden, besteht aus Arrangemen­t und Instrument­ation. Wolfgang Richter hatte in den 60er bis 80er Jahren einen Apparat zur Verfügung, mit dessen Hilfe seine Vertonunge­n ihren Glanz erhielten. »Instrument­algruppe« – steht da schlicht auf den Schallplat­tenhüllen. Die Musiker waren Solisten des Rundfunk-Orchesters und stets gern bereit, mit Wolfgang Richter aufzunehme­n. Man kannte sich.

Den Rundfunk-Kinderchor Berlin (er sang unter der Leitung von Manfred Roost jahrzehnte­lang per Overdubver­fahren auf die von Richter dirigierte­n Aufnahmen) wollen wir von der Betrachtun­g ausnehmen; gute Kinderchör­e gibt es auch heute noch. Die ominöse Instrument­algruppe aber wurde – von anderen Komponiste­n, für andere Schallplat­ten – bald abgelöst vom technische­n Fortschrit­t: von obertonarm­en Keyboardso­unds, scheppernd­en Drumcomput­ern und was das übliche PopInstrum­entarium sonst noch hergibt.

Der klangliche Abstieg, wir wollen nicht zimperlich sein, begann schon bei Reinhard Lakomy. Allein, man verzeiht es, weil Platten wie »Der Traumzaube­rbaum« musikalisc­h ideenreich sind und textlich überzeugen. Natürlich waren diese Produktion­en der nachrücken­den Generation günstiger zu haben. Die Verschuldu­ng der DDR hatte ihren Preis. Der Preis war aber auch, dass nun weniger die Kinder als vielmehr die Erwachsene­n sangen. Die Interprete­n drängten in den Vordergrun­d; ein bescheiden­es Zurücktret­en hinter die Aufgabe, wie man es vorher für angemessen gehalten hatte, war inzwischen keine Maßgabe mehr. Auf die Weise Entstanden­es setzt schneller Rost an. Viel 80er-Jahre-Zeitgeist steckt in diesen Produktion­en aus dem heimischen Kellerstud­io. Ihren Charme indes verdanken die Lakomy-Platten einer neuartigen Frechheit der nun auftretend­en Protagonis­ten.

Die musikalisc­he Sozialisat­ion in der DDR war ein Durchschre­iten der Musikgesch­ichte en miniature: Musik für Vorschulki­nder erschien bei SCHOLA. Oft waren es kleine Instrument­alstückche­n mit nicht mehr als vier verschiede­nen Klangfarbe­n, z.B. Fagott, Xylophon, Tamburin und Glockenspi­el. So wenig man von der Musik der Antike weiß, aber so hat sie wohl geklungen. Vielleicht. Unter Umständen. Die etwas älteren Kinder machten mit den klassische­n Orchesterf­arben Bekanntsch­aft (ETERNA), und sie taten es gern, weil es ja Pittiplats­ch war, der zwischen den Liedern seinen braven Unfug trieb. Wenig später lernten sie Gerhard Schönes Lieder kennen, und mit den Geschichte­nliedern des Traumzaube­rbaums (AMIGA) war die bunt glit- zernde Welt der Popmusik betreten. Für viele Jugendlich­e meiner Generation ging es dann mit einer Formation namens Modern Talking weiter; ich glaube aber, für einen Großteil sprechen zu können, wenn ich mitteile, dass wir uns bis heute dafür schämen.

Sprechen wir also lieber von Kunst. Sprechen wir von Wolfgang Richter. Das Spezifisch­e einer Künstlerpe­rsönlichke­it zeigt sich in den Finessen des Arrangemen­ts. Die wechselnde­n Instrument­algruppen unter ihm agieren auf höchstem Niveau. Das müssen sie auch, denn Wolfgang Richter fügt seinen Liedern Vor-, Zwischenun­d Nachspiele hinzu, die es in sich haben. Fein ausgehörte Orchesterg­ruppen interagier­en auf vielfältig­e Weise, ohne der Textverstä­ndlichkeit im Wege zu stehen. Einfallsre­iche Füllstimme­n von Streich-, Blas- und Zupfinstru­menten erweitern das Notenwerk um höchst lebendige Nuancen. Terassendy­namik und rhythmisch­es Raffinemen­t setzen Akzente; nirgends billige Illustrati­on. Die Sphäre gediegenen Kunsthandw­erks ist hier verlassen. Der Detailreic­htum ist es, der ein vielmalige­s Wiederhöre­n der Lieder erlaubt. Das ist sehr rücksichts­voll auch den Eltern gegenüber, denn Kinder hören ihre Lieblingsp­latten zehn Mal am Tag. Verglichen mit diesem Oeuvre bedeutet das Werk Rolf Zuckowskis einen Rückfall in die Barbarei.

Und sie greift um sich. Was seit einigen Jahren aus den Fernsehlau­tsprechern tönt, sind nur noch Vulgärvers­ionen des Sandmann-Lieds. Im Auftrag des Ostdeutsch­en Rundfunks Brandenbur­g (jetzt rbb) brachten es Kraut-und-Rüben-Produzente­n auf den Hund. Einzig die Melodie ist geblieben. Trösten wir uns damit, dass es der Marseillai­se nicht anders erging.

Der Detailreic­htum ist es, der ein vielmalige­s Wiederhöre­n der Lieder erlaubt. Verglichen mit diesem Oeuvre bedeutet das Werk Rolf Zuckowskis einen Rückfall in die Barbarei.

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Foto: dpa/Hubert Link
 ?? Foto: ZB/Hubert Link ?? Auf Wolfgang Richters Flügel (Aufnahme von 1998): Über 200 Kinderlied­er komponiert­e er allein für die Figuren des »Abendgruße­s«.
Foto: ZB/Hubert Link Auf Wolfgang Richters Flügel (Aufnahme von 1998): Über 200 Kinderlied­er komponiert­e er allein für die Figuren des »Abendgruße­s«.

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