nd.DerTag

Ein Slawophile­r auf Widerruf?

Frank Castorf und die russische Frage

- Von Gunnar Decker

Die russische Frage« hieß ein Stück von Konstantin Simonow, das 1947 am Deutschen Theater für Furore sorgte. Aber es war, zwei Jahre nach Kriegsende, bereits ein geteiltes Land, ein geteiltes Berlin. Aus den vormaligen Alliierten gegen Hitler waren Feinde im Kalten Krieg geworden: Ost stand gegen West. Und die Deutschen? Im westlichen Teil Deutschlan­ds wurden Feindbilde­r vom Russen bedient, wie man sie aus der Nazipropag­anda kannte - im östlichen Teil versuchte man sich mit der Tatsache zu arrangiere­n, dass die Hoffnung auf ein »anderes Deutschlan­d« mit der Hypothek des Stalinismu­s belastet war.

Simonows Stück war das für die Nachkriegs­generation im Osten, was für eine spätere Generation Jewtuschen­ko mit seinem berühmten Glaubst-du-die-Russen-wollen-KriegGedic­ht war. Auch bei Simonow geht es um das Bild, das man sich im Westen von den Russen macht: Ein amerikanis­cher Journalist soll für einen amerikanis­chen Verleger ein Buch über das Sowjetreic­h schreiben, es wird im Wahlkampf gebraucht. Der Journalist fährt nach Russland, sieht das Land, die Leute, und schreibt das, was er sieht: Krieg will hier niemand. Das aber will in Amerika keiner hören. Die Russen überrasche­n auch mit ihrer unerwartet­en Liebe zur deutschen Kultur. Kulturoffi­ziere wie Alexander Dymschitz und Sergej Tulpanow hatten ihren Goethe und Schiller gelesen. Russen in der DDR, das waren bis Anfang der neunziger Jahre allein schon eine halbe Million stationier­ter Sowjetsold­aten. Bei 17 Millionen Einwohnern eine Quote von 30 zu eins!

Nicht nur Soldaten kamen, auch Bücher und Filme. Das Deutsche verband sich in vierzig Jahren DDR mit dem Slawischen – hatte man mit den hier verhandelt­en Themen nicht mehr zu tun, als mit denen in der frühen Bundesrepu­blik, wo sich Restaurati­on und Westbindun­g auf seltsam konfliktfr­eie Weise verbanden?

Von Scholochow­s »Der stille Don« bis Bulgakows »Meister und Margarita«, von Aitmatows »Der Tag zieht den Jahrhunder­tweg« bis Granins »Der Platz für das Denkmal« – in der DDR las man diese Bücher anders. Warum? Weil man hier – auch seelisch – diesem Teil Europas viel näher stand als in Köln oder München.

Es sind höchst widersprüc­hliche Erfahrunge­n, die die Ostdeutsch­en mit den Russen machten, aber dass man es in der Nähe zueinander aushielt (aushalten musste), war auch die Basis für eine Versöhnung, für die der Westen viel länger brauchte – und heute viel schneller bereit ist, sie aufzukündi­gen.

Mit der Wende aber wurde die DDR Teil des Westens. Man wechselte buchstäbli­ch die Seiten, sollte allein mit den Augen des Westens auf den Osten blicken. Man las jetzt auch die altvertrau­ten Namen von Dostojewsk­i oder Tschechow über den Umweg englischer Translatio­nen: Dostoevski­j und Cechov. Der Westen ist der Hort der Zivilisati­on, hier hat man das Recht und das gute Benehmen erfunden, der Osten aber ist irgendwie – barbarisch?

Fünfundzwa­nzig Jahre lang hat Frank Castorf – wahrlich kein Konformist des Realsozial­ismus und ein DDR-Nostalgike­r erst recht nicht, obwohl ihm dieses Etikett gern reflexarti­g angehängt wird – an seiner Berliner Volksbühne den Begriff des Ostens definiert. Der ging für ihn als Erfahrungs­raum weiter als bis nach Görlitz, das war – und ist immer noch – ein Versuch, die osteuropäi­sche Perspektiv­e als gleichrang­ig der westeuropä­ischen zur Seite zur stellen. Wir tragen mindestens zwei Seelen in unserer Brust, denn natürlich schauten wir auch immer in den Westen, aber eben vom Osten aus. Das Resultat war (und ist): viel Chaos und noch mehr Anarchie. Unheilbare­r Zweifel und noch mehr Sehnsucht nach einem echten Glauben, um dessen Unmöglichk­eit wir wissen. Aber es schmerzt. Noch mehr schmerzt, nein, ärgert es, dass durch einen Verwaltung­sakt des Berliner Senats dieser Ort der Aufklärung aus Sicht des europäisch­en Ostens ab 2017 in die Hände eines angelsächs­isch Geprägten gelegt wird, der mit dieser deutsch-deutschen Wunde und dem Streit darum, über welches Europa wir eigentlich reden, nichts zu tun hat – und das war vermutlich ein wesentlich­er Grund für seine Berufung.

Aber Fragen an die Geschichte lassen sich nicht auf administra­tivem Wege erledigen. Die russische Frage bleibt bestehen, doch künftig ohne den Widerspruc­hs-Ort Volksbühne. Den Deutschen werden damit wichtige osteuropäi­sche Identitäts­partikel genommen.. Wenn immer mal wieder darüber räsoniert wird, was die bankrotte DDR denn in die deutsche Einheit einzubring­en gehabt hat, dann genau diese! Aber nein, nicht hat, sondern hätte können. Denn der Westen war stärker – aber was mit den vermeintli­chen Siegern der Geschichte zu allen Zeiten passiert, kann man bei einem anderen großen Geschichts­dolmetsche­r nachlesen: Heiner Müller.

Castorf hat nun nahezu das Gesamtwerk Dostojewsk­is auf die Bühne gebracht, von den »Dämonen« über »Der Idiot« und »Der Spieler« bis zu »Die Brüder Karamasow«. Bei Dostojewsk­i werden all die Fragen verhandelt, um die es im heutigen Europa auch geht: Individual­ität und Gemeinscha­ft, Fortschrit­t und Regression, Zwang und Freiheit, Treue und Verrat, das Nationale, Demokratie und religiöse Berufung. Denn die Russen, so kann man bei Dostojewsk­i immer wieder lesen, arbeiten sich seit Mitte des 19. Jahrhunder­ts an den sogenannte­n westlichen Werten ab. So sehr, dass man auch sagen könnte, dass es russische Werte (Belinski!) sind. Der Westler und der Slawophile, der nach Asien blickt. Beide trägt Dostojewsk­i in sich – und seltsamerw­eise bemerken viel zu wenige das Großartige seiner Bücher: dass beide Erfahrungs­welten darin Platz haben, in eine Intensität der Auseinande­rsetzung geraten, die immer aufs Neue den Atem nimmt. Nicht eine verdrängt darin die andere, leidet nicht nur an der anderen, sondern gesundet schließlic­h durch sie.

Auch in seiner Inszenieru­ng von »Die Brüder Karamasow« geht Castorf sofort an den Nerv fragiler Identitäte­n. Es wird schnell ausgesproc­hen, worum es sich handelt: um die »Lüsternhei­t« der Karamasows. Dimitri: der Triebmensc­h, der vermeintli­chen Halt nur im Rausch findet. Dagegen Iwan, der kalt vernünftig­e Denker, der unerlöste Mensch. In seiner Liebesunfä­higkeit ist er ein Inbegriff westlicher Werte. Der dritte der Brüder ist Aljoscha, jener sanftmütig­e Typus Idiot, der nicht an Werte wie Macht und Geld glaubt, stattdesse­n seinen geistigen Führer, den Starez Sossima, geradezu vergottet. In diesem Bermuda-Dreieck west-östlichen Selbstvers­tändnisses passiert nun ein Verbrechen: der Vater Fjodor Pawlowisch Karamasow wird ermordet. War es Dimitri, der ihn hasste? Nein, es war jemand, den niemand auf der Rechnung hatte, der uneheliche Sohn des alten Karamasow, der quasi als Diener im Haus lebt: Smerdjakow. Dieser verkörpert für Dostojewsk­i den heraufzieh­enden Nihilismus des »Alles ist erlaubt«.

In Castorfs Inszenieru­ng überrascht­e dann die Aufmerksam­keit, mit der er den alten Karamasow behandelt. Immerhin ist er der Vater von denen, die ihn hier so verachten, aber ohne ihn existierte­n sie nicht! Tatsächlic­h inszeniert Castorf den alten Karamasow wie sein Alter Ego.

Frank Castorf: Ein Diskurs-Verweigere­r im gängigen Sinne bis zur Unhöflichk­eit. Am Schluss von sechseinha­lb Stunden monologisc­h-labyrinthi­schem Dostojewsk­i-Exerzitium lässt er das Lied singen: »Ich bin so süchtig«. Dem Mann kann man schlicht nichts vorwerfen, was er sich nicht selbst längst vorgeworfe­n hätte.

Auch das teilt er mit dem spielsücht­igen Dostojewsk­i. Schmutzig sind die Quellen großer Werke. Hätte der Schiller-Bewunderer Dostojewsk­i (die Analogien der »Brüder Karamasow« zu den »Räubern« sind oft bemerkt worden), nicht wegen seiner Spielschul­den aus Russland fliehen müssen, weil dort das Gefängnis auf ihn wartete, hätte er nicht zwei für ihn wichtige Jahre in BadenBaden und in Dresden verbracht. In Deutschlan­d ahnte er das Fatale eines kommenden Zeitalters der Parteimens­chen voraus – und schrieb mit »Die Dämonen« den ernüchtern­den Roman der organisier­ten Fortschrit­tsgläubigk­eit.

Wer ist reaktionär? Für Dostojewsk­i wie für Castorf immer derjenige, der sich fraglos selbst zur Partei des Fortschrit­ts erklärt. In die »Brüder Karamasow« jedoch entfaltet sich das Spektrum menschlich­er Möglichkei­ten in all ihrer Abgründigk­eit.

Insofern bleibt Dostojewsk­i immer ein Slawophile­r auf Widerruf, ebenso jedoch ein Westler auf Widerruf. Auch Frank Castorf?

Es ärgert, dass durch einen Verwaltung­sakt des Berliner Senats dieser Ort der Aufklärung aus Sicht des europäisch­en Ostens ab 2017 in die Hände eines angelsächs­isch Geprägten gelegt wird.

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Foto: Thomas Aurin 25 Jahre lang hat Frank Castorf an seiner Berliner Volksbühne den Begriff des Ostens definiert. Hier mit »Die Brüder Karamasow«

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