Der Terror im kollektiven Gedächtnis
Historiker Wolfram Pyta sieht im Stade de France einen möglichen identitätsstiftenden Erinnerungsort aller Europäer
Wie haben Sie die Ereignisse rund um das Fußball-Länderspiel zwischen Frankreich und Deutschland am Freitag vor einer Woche erlebt?
Ich habe mir das Spiel zu Hause vor dem Fernseher angeschaut. Schon bei der ersten Detonation bin ich aufgeschreckt und habe versucht, mich durch andere Medien zu informieren.
Welche Gedanken kamen Ihnen dann zuerst?
Meine ersten Gedanken waren, dass es kein Zufall ist, dass sich Terroristen ein Fußballspiel für Anschläge aussuchen. Das Stadion als symbolträchtiger Ort, auf den die Welt blickt. Ein Ereignis mit maximalem medialen Resonanzboden. Und nach dem bisherigen Stand der Ermittlungen hatten die Terroristen ja auch geplant, ins Stadion zu gehen, um ein noch größeres Blutbad anzurichten.
Ihre Forschungsschwerpunkte sind unter anderem die europäische Geschichte und der Sport als Kulturphänomen. Wie ordnen Sie die Anschläge von Paris eine Woche später ein?
Das Stade de France in Saint Denis ist zu einem Ort geworden, an dem sich Europa auf seine gemeinsamen Werte und Wurzeln besinnt. Es kann zu einem Europäischen Erinnerungsort werden, weil es Anschläge auf das kulturelle Fundament Europas waren. Dass Paris ausgewählt wurde, ist kein Zufall. Frankreich ist das Land der Menschenrechte. Dort wurde am 26. August 1789 die Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen deklariert, zum ersten Mal in der Geschichte Menschen- und Bürgerrechte fixiert. Aber nicht allein Frankreich wurde getroffen, sondern die gesamte westliche zivilisierte Art, in einer pluralistischen Demokratie zu leben, mit Toleranz und Meinungsfreiheit, in einer multikulturellen Gesellschaft, die abweichende Lebensarten duldet und als Bereicherung empfindet.
Sie erwähnten das wissenschaftliche Modell des Erinnerungsortes. Können Sie es kurz beschreiben?
Der Begriff oder die Kategorie Erinnerungsort ist vor etwa 25 Jahren von dem französischen Historiker Pierre Nora geprägt worden. Dahinter steht die Idee, dass sich eine geteilte kollektive Identität, also eine gelungene Vergemeinschaftung, manifest niederschlagen muss. Das kann tatsäch- lich wortwörtlich an einem Ort sein, ist aber nicht auf die reine Topografie reduziert. Auch ein Ereignis oder eine mythisch aufgeladene Person kann ein Ereignisort sein. Voraussetzung ist aber immer, dass er verbindet und die Erinnerung gepflegt wird. Jede größere Nation hat ihre Erinnerungsorte, allein über die deutschen gibt es ein mehrbändiges Werk.
Warum ist die Suche danach so wichtig?
Gemeinschaftsbildung ist eine soziale Kraft, die überhaupt erst Gruppenkohäsion stiftet. Gemeinschaft ist das Bekenntnis zu einer Gruppenzugehörigkeit, die eben nicht etwa rassisch definiert ist. Das ist der große Unterschied. Rassismus bedeutet, dass man qua Geburt in eine Schicksalsgemeinschaft hineingeboren wird. Man hat nicht die freie Wahl. Gemeinschaften sind Bekenntnisgemeinschaften. Das große Problem, das wir auch in Deutschland haben, ist die Frage der Integration. Und die kann auch über symbolische Angebote gelingen, die sich auf einer emotiven Ebene abspielen. Dafür ist es wichtig, Gemeinschaft immer wieder neu zu erfahren und zu pflegen. Und genau dafür eignen sich Erinnerungsorte.
Und nun könnte ausgerechnet der Fußball einen solchen europäischen Erinnerungsort schaffen.
Ja, weil das, was im Pariser Stade de
Alexander Ludewig France passiert ist, zu einem europäischen Diskurs geführt hat, der sich darin einig ist: Dieser Anschlag gilt nicht speziell Frankreich. Europa definiert sich gerade im Kern gemeinsam als Absage an barbarische Akte der Gewalt, der Intoleranz und des Terrors. Wie schon erwähnt, zeigt auch das Anschlagsziel, welche Wichtigkeit der Fußball hat. Und die Kraft des Fußballs besteht auch gerade darin, dass er gemeinschaftshaltige Bezüge geradezu magisch anzieht. Auch deshalb kann das Stade de France identitätsstiftend für Europa werden.
Wie muss man sich den Weg dahin vorstellen?
Erinnerungsorte werden ja nicht von der Europäischen Union nominiert. Es ist ein Prozess der Werdung, der nicht systematisch gesteuert wird. Es muss vor allem von unten heraus erwachsen. Die Europäer selbst müssten diesen Ort entdecken, sie müssten ihn annehmen und aufnehmen. Und das kollektive Gedächtnis, also diese Erinnerung muss gepflegt werden. Beispielsweise mit Mahnwachen an jedem 13. November oder Lichterketten, es gibt ja sehr viele Formen zivilgesellschaftlichen Engagements. Aber auch die EU, die ja über eine Vielzahl von Institutionen verfügt, und ihre Mitgliedstaaten müssten in irgendeiner Weise versuchen, die Erinnerung institutionell zu pflegen.
Sie erwähnten das mehrbändige Werk zu den deutschen Erinnerungsorten. Unter den 122 dort aufgeführten findet sich auch die Fußball-Bundesliga.
Ja. Dahinter steht die methodische Prämisse, dass der Fußball mit solch kollektiven Sinnbezügen aufgeladen ist. Und die Bundesliga ist ein Erfolgsmodell. Sie ist eine Form des Spielbetriebs, der es maßgeblich gelungen ist, dass der Fußball ganz oben unter den Kulturwerten steht, unabhängig von der Nationalmannschaft. Die Bundesliga spiegelt das neue Deutschland im wahrsten Sinne des Wortes wider: Sie ist in der alten Bundesrepublik eingeführt worden, hat sich nach der Wiedervereinigung weiter etabliert und ist mittlerweile zu einem Exportmodell der deutschen Fußballkultur geworden. Die anderen nationalen Ligen schauen auf die Bundesliga, auf die großartige Stimmung in den Stadien. Die Bundesliga ist die Spielklasse mit den weltweit meisten Zuschauern im Durchschnitt. Und die zweite Liga, die ja auch zur Bundesliga gehört, hat weltweit immer noch den fünfthöchsten Zuschauerdurchschnitt. Das ist eine Kultur, eine lebendige Form der Vergemeinschaftung. Deswegen ist sie ein deutscher Erinnerungsort.
Sie sprachen von der großartigen Stimmung in den deutschen Stadien. Teilen Sie auch die Meinung, dass die Bundesliga durch das Aufkommen der Ultras, die den Kampf gegen Rassismus, gegen Homophobie und Diskriminierung erst in die Stadien gebracht haben, noch mal eine deutliche Aufwertung erfahren hat?
Wichtig ist vor allem die Struktur der Bundesliga. Abgesehen von wenigen Ausnahmen, können Kapitaleigner nicht die Mehrheit bei Vereinen erwerben. Es ist also nicht möglich, dass ausländische Investoren, wie es in der englischen Premiere League üblich ist, aus Renditegründen einen Fußballverein kaufen und dann wieder verkaufen. Fußball ist ein Kulturgut. Und nur weil es ein Kulturgut ist, kann es, übertrieben formuliert, keine feindliche Übernahme durch Spekulanten geben. Natürlich spielt Geld eine wichtige Rolle, aber die rein ökonomische Dominanz wird verhindert. Und das führt unter anderem dazu, dass die Fans in der Bundesliga einen sehr viel größeren Einfluss in ihrem Verein und auf den Fußball ha- ben als in allen anderen großen Ligen. Nur deswegen ist in Deutschland Platz für eine lebendige Fußballkultur. Und für diese sind die Ultras in der Tat eine große Bereicherung, weil sie genau für diese Werte kämpfen. Und die Ultras sind ja auch nichts anderes als eine Bewegung, die sehr stark die Heimat in den Vordergrund stellt. Der Fußballverein als Heimat.
Zurück nach Paris. Das Stade de France könnte also ein wichtiger Ort, ein Erinnerungsort für Europa werden. Er ist allerdings negativ belegt, die Trauer steht im Vordergrund. Sind positive Erinnerungsorte stärker als negative?
Zumindest was die Fest- und Feierkultur anbelangt, haben sie eine viel stärkere Verankerung in der Lebenswirklichkeit. Nehmen wir den 14. Juli in Frankreich. Das ist ein Tag, der in hohem Maße gelebt wird, der die meisten Franzosen nicht kalt lässt. Sie feiern die Werte der Republik. Das ist ein Fest. Ähnlich ist es beim amerikanischen Unabhängigkeitstag. Insofern kann man sagen, dass positive Erinnerungsorte die markantesten sind.
Wenn Sie sich einen Erinnerungsort aussuchen könnten, den es noch nicht gibt, welcher wäre das?
(Lacht) Einen Erinnerungsort wofür? Erinnerungsorte müssen immer einen Bezug zu einer Gemeinschaft haben.
Nehmen Sie die die Gemeinschaft, die Sie sich wünschen.
Ich würde mir sehr wünschen, dass Europa Orte findet, an denen das Bekenntnis zu Europa manifest sichtbar und erlebbar wird. Und ich würde mir wünschen, dass diese Orte eben nicht, wie es jetzt scheint, nur durch Akte der Gewalt, der Barbarei gestiftet werden. Ich würde mir wünschen, dass es Orte gibt, in denen Europa fröhlicher, mit einem positiven gemeinschaftlichen Akt verbunden ist, wo gefeiert werden kann. Das ist ja auch das Grundproblem Europas: Es gibt keinen Ort, wo die Europäer einen Feiertag, einen gesamteuropäischen Feiertag begehen können – den gibt es einfach nicht. Und das Schönste wäre, wenn es einen solchen Feiertag gäbe, der keine Kopfgeburt von irgendwelchen Technokraten wäre, sondern gelebt wird von der Bevölkerung Europas. Das wäre mein größter Wunsch.