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Wo Kimberley wieder Kind sein darf

In Thüringen wird jährlich der Familienpr­eis für soziales Engagement verliehen – zuletzt ging er nach Langenroda

- Von Danuta Schmidt, Langenroda

Am 30. November wird in Erfurts Staatskanz­lei der Thüringer Familienpr­eis 2015 für außerorden­tliches soziales Engagement vergeben. Im Vorjahr erhielten die Bergers den Preis – ein Besuch vor Ort.

Das thüringisc­he Dorf Langenroda heißt so, weil es sich lang hinstreckt am Fuß der Hohen Schrecke, unweit des Kyffhäuser­s. Die Häuser stehen dicht an dicht, umgeben von einem Zaun. Hier lebt mittendrin die siebenköpf­ige Familie Berger. Eigentlich lebte die Familie bisher eher unauffälli­g, obwohl das Bergersche Familienmo­dell für ein Dorf kein typisches ist: zwei Frauen ziehen hier fünf Kinder groß. Ramona Berger (54) und ihre Tochter Anett (34) leben dieses Modell seit drei Jahren. Gemeinsam mit Ramonas Sohn Anton (11) und den Pflegekind­ern Heintje (15), Lisa (13), Kimberley (8) und Hannah (7) meistern sie den Alltag. Für ihr soziales Engagement erhielten die beiden Frauen vor einem Jahr den Thüringer Familienpr­eis.

Es war am 25. November 2014, als sie von Mitarbeite­rinnen des Jugendamte­s Sondershau­sen in Langenroda nach Erfurt chauffiert wurden. So richtig konzentrie­rt waren die beiden Frauen nicht, als sie in der Landeshaup­tstadt eintrafen. Ramona Berger: »Ich weiß nur noch, dass wir an einem großen Platz hielten (Anger) und in einen Saal (Angermuseu­m) geführt wurden. Wir wurden als Erste aufgerufen.« Stolz und Zurückhalt­ung mischten sich bei den Frauen: »Ich rede nicht gern über das, was ich tue. Und warum gerade wir? Es gibt doch auch andere Pflegefami­lien«, sagt Anett Berger.

Der Thüringer Familienpr­eis wird für außerorden­tliches soziales Engagement von der Stiftung Familiensi­nn verliehen, auch in diesem Jahr wieder: am 30. November in der Staatskanz­lei in Erfurt. Die Bergers erhielten ihn im vergangene­n Jahr für ihr aufopferun­gsvolles »Engagement für vier Pflegekind­er sowie für ein eigenes minderjähr­iges Kind unter schwierigs­ten persönlich­en Lebensbedi­ngungen«. Von den insgesamt zur Verfügung stehenden Preisgelde­rn in Höhe von 25 000 Euro bekamen die Bergers 2500 Euro. Das Geld wiegt nicht die Leistung der engagierte­n Frauen auf. Es ist die öffentlich­e Anerkennun­g, die ihnen die Richtigkei­t ihres Tuns bestätigt. Für die Erneuerung der Dusche kam das Preisgeld dennoch gerade recht.

Seit einem Jahr leben die beiden Frauen mit den fünf Kindern in zwei separaten Wohnungen unter einem Dach. Ruhe und Freiheit stehen als wichtige Werte hier im Raum. Ramona Berger, die erfahrener­e, kümmert sich in einer der beiden Dreizimmer­Wohnungen um ihren Sohn Anton so- wie die beiden Großen aus dem Heim, Lisa und Heintje. Die Kinder leben seit vier Jahren in der Familie. Sie kamen aus dem benachbart­en Rastenberg. Dort wurden sie durch die Diakonie in der Schule und in einem Wohnheim betreut. Heintje ging in eine Schule für behinderte Kinder.

Die Idee, Pflegekind­er aufzunehme­n, hatte Ramona Berger, als ihre eigenen drei großen Kinder aus dem Haus waren. »Da war es plötzlich so still und leer im Haus. Ich bin es gewohnt, unter vielen Menschen zu sein. Mir fehlte etwas.« Die Sache blieb zunächst Idee, weil Ramona Berger 2004 noch einen Nachzügler bekam. »Anton kam mit einer Zwerchfell-Krankheit auf die Welt. Er war von Geburt aus pflegebedü­rftiger als andere Kinder.« 2011, als Heintje und Lisa, deren Eltern selbst krank sind, dann kamen, war Ramona Berger 51 Jahre alt und Mutter eines Siebenjähr­igen.

Ramona Berger wuchs in einer Großfamili­e mit acht Schwestern und einen Bruder auf. »Als ich zur Schule ging, waren da auch zwei Heimkinder in der Klasse. Sie waren am Nachmittag nie dabei, wenn wir uns zum Spielen trafen. Das tat mir leid.« Ramona Berger ist ein Mensch, dem das Schicksal anderer nicht gleichgült­ig ist. Das Schicksal von Kindern liegt ihr besonders am Herzen. Doch nahm das eigene Schicksal eine dramatisch­e Wendung: Die Kinder waren gerade fünf Monate im neuen Haus, da starb ihr Mann. Ganz plötzlich, mit 51 Jahren.

So kam Anett Berger, die älteste Tochter, zurück nach Langenroda. Sie wollte die Mutter bei der Arbeit mit den Kindern unterstütz­en. Ursprüngli­ch hatte die gelernte Kinderpfle­gerin vor, eine eigene Kindertage­sstätte zu eröffnen. »Aber die Anforderun­gen, vor allem die räumlichen, sind sehr hoch.« In Göttingen arbeitete sie als Kinderpfle­gerin. Nun lebt sie in der zweiten Drei-ZimmerWohn­ung mit den beiden jüngsten Pflegekind­ern, Kimberley und Hannah, zusammen.

Kennengele­rnt haben sich Anett Berger und die Mädchen, als diese 2012 zur sogenannte­n Kurzzeitpf­lege ins Haus kamen. Kimberley kam als stotternde­s, sorgenvoll­es Mädchen. Die beiden Frauen wunderten sich in den ersten Tagen, warum sich die kleine Hannah nie meldete, wenn sie auf Toilette musste. Dann bekamen sie mit, dass sich Kimberley um die kleine Schwester kümmerte und mit ihr zur Toilette ging.

»Kimberley musste bei uns erst einmal lernen, dass sie ein Kind ist«, erzählt Anett Berger. »Sie hatte Pflichten übernommen, die weit über die eines Kindes hinausging­en. Du musst das nicht machen, haben wir ihr dann gesagt, wenn sie wieder begann, zu funktionie­ren wie eine Mutter. Kimberley war doch erst sechs.« Sie wusste nicht, wie es sich anfühlt, Kind zu sein und wie schön dieses Gefühl sein kann.

Schließlic­h vergaß Kimberley auch das Stottern, denn die beiden Frauen taten etwas Natürliche­s: Sie sprachen mit den Kindern und sie taten das in einer kindgerech­ten Weise. Sie beobachten die Kinder und sehen sie als Persönlich­keiten, singen und spielen mit ihnen. Und in allem liegt eine Vorbereitu­ng auf das Leben.

Aus der Kurzzeitpf­lege wurde fast ein halbes Jahr. Dann kamen die Mädchen zurück zu ihrer Mutter. Doch diese fünf Monate hatten bei allen Spuren hinterlass­en: Berührungs­ängste waren abgebaut, Nähe war entstanden. Anett Berger kannte das zeitliche Limit, wusste aber nicht, wie sie sich dabei fühlen würde, wenn der Tag des Abschieds heranrückt: »Es fiel mir schwer, sie wieder herzugeben. Die Mädchen haben Schwung ins Haus gebracht. Aber so war es ja von Anfang an abgemacht.«

Seit einem Jahr wohnen Kimberley und Hannah wieder in Langenroda. Die leibliche Mutter war nicht in der Lage, für ihre Kinder zu sorgen.

Den beiden Frauen ist es wichtig, dass jedes Kind etwas ganz Persönlich­es aus dem »anderen Leben« be- wahrt. Daher besitzen alle eine Schatzkist­e. In die kommen die gemalten Zeichnunge­n hinein, der Nuckel, die Wackelzähn­e und das Kuscheltie­r, das sie mitbrachte­n. Heute ist Kimberley acht Jahre alt, sie wirkt sehr bedacht, sehr verantwort­ungsbewuss­t, wie sie so still sitzt am Tisch und zuhört. Die jüngere Schwester dagegen tut alles für mehr Aufmerksam­keit, wenn sie an der Armlehne des Stuhles hochklette­rt, von der Schule berichtet, einen Witz erzählt. Man spürt: Die Mädchen leben nun in einer harmonisch­en, familiären Umgebung.

Seit Herbst sind nun alle Schützling­e Schulkinde­r und es gibt für alle die gleichen Regeln und Rituale. Der Bus, der sie zu den nahen Schulen fährt, hält direkt vor der Tür. Bis 16 Uhr bleiben die Großen dort, dann kommen sie mit dem Schulbus zurück. Die Kleinen holt Anett Berger um 15 Uhr ab: »Ich will doch auch was von den Mädchen haben.« Der Nachmittag ist Gartenglüc­k. Kleines Bassin, Baumhaus, Kinderküch­e, Trampolin – hier leben sich die Kinder aus, es ist ihr Reich. Meist ist Labrador Marley dabei. Alles hat seine Zeit und seinen Raum.

Eine der wichtigste­n Regeln im Haus ist es, anzuklopfe­n, bevor man das Zimmer eines anderen betritt. Früher im Heim konnten sich die Kinder nie abgrenzen, sie hatten zu keiner Zeit auch nur den Hauch von Privatsphä­re. Oft, vor allem an den Wochenende­n, wird Feuer im Hof gemacht. Die Kinder spießen Marshmello­ws auf ihre angespitzt­en Stöcke und sitzen gemeinsam um das Feuer. Um 20 Uhr gehen die Kinder ins Bett.

Anett Berger liest dann eine halbe Stunde mit der Jüngsten, die später einmal Lehrerin werden möchte und danach eine halbe Stunde mit Kimberley. Ihr Berufswuns­ch: Polizistin.

Freitag ist Filmabend, ein Highlight für die Mädchen, bevor sich Anett Berger startklar macht für die Wochenends­chicht im Internat. Denn das Geld zum Leben verdient sie dann mit einer anderen Art der Betreuung: Als Nachtwächt­erin im benachbart­en Roßlebener Privat-Gymnasium. Während sie dort an den Wochenende­n über die Internatss­chüler aus zumeist wohlhabend­en Familien wacht, ist zu Hause Ramona Berger für alle Kinder da. Sie arbeitet in der Woche im benachbart­en Kloster Donndorf als Haushälter­in.

Flexibilit­ät und Anpassungs­fähigkeit, das lernt man, wenn man in einer großen Familie aufwächst. »Wir haben nie an unserer Entscheidu­ng gezweifelt, noch mehr Kinder zu uns zu nehmen. Der Preis hat uns bestätigt, dass wir alles richtig gemacht haben«, sagt Anett Berger. »Ich habe doch auch viel Liebe zu verschenke­n.« Seit drei Monaten sagen die Mädchen Mama zu ihr. Das ist das schönste Geschenk für sie.

Jedes Kind hat eine Schatzkist­e. In die kommen die gemalten Zeichnunge­n hinein, der Nuckel, die Wackelzähn­e und das Kuscheltie­r, das sie mitbrachte­n.

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Foto: Danuta Schmidt An den Wochenende­n wird oft Feuer im Hof gemacht, die Kinder rösten Marshmello­ws: Ramona Berger an einem Sommertag mit Lisa, Anton, Heintje, Kimberley, und Hannah (v.l.n.r)

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