Achterbahn des Lebens
Im Südwesten Serbiens auf der Šarganska osmica mit dem Geschichtsfernrohr unterwegs.
Wie auf einer Achterbahn, oder?«, sinniert Boško Marković aus dem Zugfenster schauend und guckt fragend zu mir rüber. Nun heißt diese Bahnstrecke ganz im Südwesten Serbiens, der an Bosnien sowie Montenegro grenzt und von wo es auch nur ein Katzensprung nach Kosovo ist, zwar sogar so ähnlich wie Achterbahn, nämlich Šarganska osmica, also Šargansker Acht. Was man aus dem Fenster sieht, ist landschaftlich höchst beeindruckend, doch an eine Achterbahn erinnert es kaum. Zumal wir uns mit nur rund 18 km/h bewegen und letztendlich nach einer Stunde am Ziel sind. Dabei haben wir allerdings selbst für eine Schmalspurbahn beeindruckende 260 Höhenmeter auf drei Kilometern Luftlinie geschafft! 20 Tunnel müssen dafür durch- und fünf Brücken überquert werden. Und das alles mit unzähligen Kürvlein und Kurven, von denen etliche Vollkreise sind.
»Also gut, nicht so wie eine Rummelachterbahn, eben mehr wie eine Achterbahn unseres Lebens«, räumt Herr Marković nachdenklich ein, seines Zeichens Zugbegleiter, groß, stämmig, mit klugen Augen, gesprächig, in akkurat sitzender Uniform. »Dauerndes Auf und Ab, irgendwie immer in den gleichen Kreisen zum Ausgangspunkt zurück, draußen am Berg im Sonnenschein, drinnen im Tunnel Finsternis und Kälte. Eben wie die Achterbahn des Lebens. Verstehen Sie, was ich meine?«
Ja, ja, nicke ich, zugegebenermaßen etwas überrascht von der Fabuliergewandtheit des 42-jährigen Eisenbahners. Aber Recht hat er ja. Diese Šarganska osmica versinnbildlicht auch das wechselhafte Schicksal der Menschen und ihrer Gegend hier, die als das alte und ewige Herz Serbiens gilt. Wobei die Strecke selbst auch eine Achterbahnfahrt durchgemacht hat. In Betrieb genommen zu jugoslawischen Königszeiten 1928, aufs Abstellgleis gekommen zu jugoslawisch föderativ-sozialistischen Zeiten 1978, wiedererweckt 2003, nun als Touristenrundkurs. Seither haben über eine Million Touristen, Schulklassen und Betriebsausflügler die fantastische Bergwelt zwischen Taraund Slatiborgebirge auf diese Weise genossen.
Die meisten kommen natürlich nicht nur wegen der Bahnfahrt hierher. Zum einen sind die Tara und das Slatibor zwei riesige Nationalparks, also Naturlehrpfad-, Wander- und Mountainbiketerrains par excellence. »Und zum anderen haben wir hier ja etwas oberhalb der Basisstation Mokra Gora auch unser Drvengrad«, ergänzt Mira Žuvaković. Die 24-Jährige absolviert in Drvengrad – auf Deutsch Holzstadt – gerade ein Praktikum innerhalb ihres Ethnografiestudiums. Es handelt sich um ein Dörfchen im Folklorestil. Entworfen und finanziert hat es der Filmregisseur und Musiker Emir Kusturica. Von weitem erinnern die Holzdächer mitunter an die pagodenartigen Konturen der allein in dieser Gebirgsgegend wild wachsenden Pančić-Fichte (anderswo in der Welt als Serbische Fichte manchmal in Parks zu sehen). Zu dem Bungalowhotelbetrieb gehören eine Galerie, Kino, Bibliothek sowie Räume für Künstlertreffs.
Manche Ausstattungsdetails ko- kettieren ganz witzig mit Jugoslawien-Nostalgie (auf die man in Serbien vor allem bei Rentnern und jungen Leuten bis 35 trifft). Aber es gibt im Küstendorf auch klare Positionierungen zum Zeitgeschehen. So hängen am Eingang zu einem Keller Fahndungsplakate mit den Köpfen von Ex-US-Präsident Georg Bush sen. und Ex-NATO-Generalsekretär Javier Solana. »Die sitzen in dem Keller ihre lebenslange Strafe als Verantwortliche für das 78-tägige NATOBombardement auf Serbien 1999 ab, zu der sie von Kusta (Kusturicas Spitzname – d.V.) und uns verdonnert sind«, erläutert Mira Žuvaković.
Kusturica, der am Dienstag kommender Woche 61 Jahre alt wird, ist mit inzwischen um die 30 internationalen Filmpreisen hoch geehrt. Vor allem im Geiste ganz eng befreundet mit dem österreichischen Schriftsteller Peter Handke. Beide erheben seit Beginn der 90er Jahre immer wieder ihre prominente Stimme gegen antiserbische Politik aller Couleur. Geboren wurde Kusturica übrigens im 50 Kilometer weiter westlich liegenden Sarajevo in einer säkularmuslimischen Familie. Vor zehn Jahren hat er sich serbisch-orthodox auf den Vornamen Nemanja taufen lassen. Irgendwie auch das Achterbahn des Lebens.
Eine solche lässt sich im Umkreis der Šarganska osmica aber noch in ganz anderen historischen Höhen und Tiefen durchfahren. Da ist beispielsweise etwas südwestlich eine Gebirgsregion namens Stari Vlah, zu Deutsch Alte Wallachei. Die Bezeichnung hat ihren Ursprung im 12. Jahrhundert, als die Nemanjić- Dynastie die mittelalterliche Blütezeit der serbischen Königreiche begründete. Vlah, das meint wortgeschichtlich den Fremden und war auf dem Westbalkan von den Byzantinern besonders auf die slawischen Serben gemünzt.
Etwas weiter östlich stößt man dann beim Städtchen Raška auf die Grundmauern von Stari Ras, dem einstigen Zentrum der NemanjićReiche. Gesichert von der Burg Malić auf den steilen Felsen über der hier vom Ibar-Fluss tief eingeschnitten Schlucht. Dort beginnt auch die Perlenkette der orthodoxen Klöster der Nemanjić-Zeit. Man kann sie architektonisch meist der Raška-Schule zurechnen, in der sich östliche und westliche Klerikalbaukunst des Mittelalters vereinen. Žiča, Mileševa und Sapoćani sind wohl die berühmtes- reits 1941 die »Republik Užice« ausgerufen, auf 2000 Quadratkilometern mit 300 000 Einwohnern. Bis 1992 hieß die Stadt deshalb offiziell auch Titovo Užice.
Bei der Frage nach einer Jugoslawien-Renaissance, die auch in Serbien ab und an in Kneipen und Kolloquien hochkommt, flüchtet sich Frau Janković in eine Witzantwort: »Jugoslawien wird es erst geben, wenn Slowenen eine Runde ausgeben, Montenegriner eine Schaufel anfassen, Mazedonier aus dem Ausland heimkommen, Serben und Kroaten gemeinsam einen trinken und Kosovaren das alles verstehen.« Realistisch fügt sie hinzu: »Bolje išta nego ništa«, was »Besser etwas als nichts« heißt, genau genommen aber die serbische Sprichwortentsprechung zu »Besser den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach« bedeutet.
Für die Historikerin Janković hat dieser Spatz einen Namen. Es ist, sagt sie, die Hoffnung, vielleicht sogar die Tatsache, dass die gefährlichsten nationalistischen Wogen allerseits einigermaßen geglättet sind. Das sieht von Ferne betrachtet nach nicht allzu viel aus. Anders aus der Nähe. Von Užice ist es nach Kosovo oder auch ins bosnische Srebrenica jeweils nur eine gute Autostunde.
Am liebsten hätte ich ja unseren Zugbegleiter auf der Šarganska osmica gefragt, wie er das alles in seine Achterbahn des Lebens einordnet. Doch der war inzwischen abgelenkt. Ein japanischer Tourist versuchte, ihm seine imposante Dienstmütze, etwa Größe 60, abzuschwatzen. Letztlich bekam er sie. Mütze und ein kleines Sümmchen wechselten die Besitzer. Der Eisenbahner machte sich leise pfeifend auf den Weg ins Bremserhäuschen am Zugende. Als sich der Japaner, Kopfgröße etwa 54, die Errungenschaft gleich noch überstülpte, verfiel seine Reisegruppe in ein Dauerkichern, das bis zum Ausstieg anhielt. Putzig. Eben die ganz alltägliche Achterbahn des Lebens.