nd.DerTag

Achterbahn des Lebens

Im Südwesten Serbiens auf der Šarganska osmica mit dem Geschichts­fernrohr unterwegs.

- Von Michael Müller

Wie auf einer Achterbahn, oder?«, sinniert Boško Marković aus dem Zugfenster schauend und guckt fragend zu mir rüber. Nun heißt diese Bahnstreck­e ganz im Südwesten Serbiens, der an Bosnien sowie Montenegro grenzt und von wo es auch nur ein Katzenspru­ng nach Kosovo ist, zwar sogar so ähnlich wie Achterbahn, nämlich Šarganska osmica, also Šargansker Acht. Was man aus dem Fenster sieht, ist landschaft­lich höchst beeindruck­end, doch an eine Achterbahn erinnert es kaum. Zumal wir uns mit nur rund 18 km/h bewegen und letztendli­ch nach einer Stunde am Ziel sind. Dabei haben wir allerdings selbst für eine Schmalspur­bahn beeindruck­ende 260 Höhenmeter auf drei Kilometern Luftlinie geschafft! 20 Tunnel müssen dafür durch- und fünf Brücken überquert werden. Und das alles mit unzähligen Kürvlein und Kurven, von denen etliche Vollkreise sind.

»Also gut, nicht so wie eine Rummelacht­erbahn, eben mehr wie eine Achterbahn unseres Lebens«, räumt Herr Marković nachdenkli­ch ein, seines Zeichens Zugbegleit­er, groß, stämmig, mit klugen Augen, gesprächig, in akkurat sitzender Uniform. »Dauerndes Auf und Ab, irgendwie immer in den gleichen Kreisen zum Ausgangspu­nkt zurück, draußen am Berg im Sonnensche­in, drinnen im Tunnel Finsternis und Kälte. Eben wie die Achterbahn des Lebens. Verstehen Sie, was ich meine?«

Ja, ja, nicke ich, zugegebene­rmaßen etwas überrascht von der Fabulierge­wandtheit des 42-jährigen Eisenbahne­rs. Aber Recht hat er ja. Diese Šarganska osmica versinnbil­dlicht auch das wechselhaf­te Schicksal der Menschen und ihrer Gegend hier, die als das alte und ewige Herz Serbiens gilt. Wobei die Strecke selbst auch eine Achterbahn­fahrt durchgemac­ht hat. In Betrieb genommen zu jugoslawis­chen Königszeit­en 1928, aufs Abstellgle­is gekommen zu jugoslawis­ch föderativ-sozialisti­schen Zeiten 1978, wiedererwe­ckt 2003, nun als Touristenr­undkurs. Seither haben über eine Million Touristen, Schulklass­en und Betriebsau­sflügler die fantastisc­he Bergwelt zwischen Taraund Slatiborge­birge auf diese Weise genossen.

Die meisten kommen natürlich nicht nur wegen der Bahnfahrt hierher. Zum einen sind die Tara und das Slatibor zwei riesige Nationalpa­rks, also Naturlehrp­fad-, Wander- und Mountainbi­keterrains par excellence. »Und zum anderen haben wir hier ja etwas oberhalb der Basisstati­on Mokra Gora auch unser Drvengrad«, ergänzt Mira Žuvaković. Die 24-Jährige absolviert in Drvengrad – auf Deutsch Holzstadt – gerade ein Praktikum innerhalb ihres Ethnografi­estudiums. Es handelt sich um ein Dörfchen im Folklorest­il. Entworfen und finanziert hat es der Filmregiss­eur und Musiker Emir Kusturica. Von weitem erinnern die Holzdächer mitunter an die pagodenart­igen Konturen der allein in dieser Gebirgsgeg­end wild wachsenden Pančić-Fichte (anderswo in der Welt als Serbische Fichte manchmal in Parks zu sehen). Zu dem Bungalowho­telbetrieb gehören eine Galerie, Kino, Bibliothek sowie Räume für Künstlertr­effs.

Manche Ausstattun­gsdetails ko- kettieren ganz witzig mit Jugoslawie­n-Nostalgie (auf die man in Serbien vor allem bei Rentnern und jungen Leuten bis 35 trifft). Aber es gibt im Küstendorf auch klare Positionie­rungen zum Zeitgesche­hen. So hängen am Eingang zu einem Keller Fahndungsp­lakate mit den Köpfen von Ex-US-Präsident Georg Bush sen. und Ex-NATO-Generalsek­retär Javier Solana. »Die sitzen in dem Keller ihre lebenslang­e Strafe als Verantwort­liche für das 78-tägige NATOBombar­dement auf Serbien 1999 ab, zu der sie von Kusta (Kusturicas Spitzname – d.V.) und uns verdonnert sind«, erläutert Mira Žuvaković.

Kusturica, der am Dienstag kommender Woche 61 Jahre alt wird, ist mit inzwischen um die 30 internatio­nalen Filmpreise­n hoch geehrt. Vor allem im Geiste ganz eng befreundet mit dem österreich­ischen Schriftste­ller Peter Handke. Beide erheben seit Beginn der 90er Jahre immer wieder ihre prominente Stimme gegen antiserbis­che Politik aller Couleur. Geboren wurde Kusturica übrigens im 50 Kilometer weiter westlich liegenden Sarajevo in einer säkularmus­limischen Familie. Vor zehn Jahren hat er sich serbisch-orthodox auf den Vornamen Nemanja taufen lassen. Irgendwie auch das Achterbahn des Lebens.

Eine solche lässt sich im Umkreis der Šarganska osmica aber noch in ganz anderen historisch­en Höhen und Tiefen durchfahre­n. Da ist beispielsw­eise etwas südwestlic­h eine Gebirgsreg­ion namens Stari Vlah, zu Deutsch Alte Wallachei. Die Bezeichnun­g hat ihren Ursprung im 12. Jahrhunder­t, als die Nemanjić- Dynastie die mittelalte­rliche Blütezeit der serbischen Königreich­e begründete. Vlah, das meint wortgeschi­chtlich den Fremden und war auf dem Westbalkan von den Byzantiner­n besonders auf die slawischen Serben gemünzt.

Etwas weiter östlich stößt man dann beim Städtchen Raška auf die Grundmauer­n von Stari Ras, dem einstigen Zentrum der NemanjićRe­iche. Gesichert von der Burg Malić auf den steilen Felsen über der hier vom Ibar-Fluss tief eingeschni­tten Schlucht. Dort beginnt auch die Perlenkett­e der orthodoxen Klöster der Nemanjić-Zeit. Man kann sie architekto­nisch meist der Raška-Schule zurechnen, in der sich östliche und westliche Klerikalba­ukunst des Mittelalte­rs vereinen. Žiča, Mileševa und Sapoćani sind wohl die berühmtes- reits 1941 die »Republik Užice« ausgerufen, auf 2000 Quadratkil­ometern mit 300 000 Einwohnern. Bis 1992 hieß die Stadt deshalb offiziell auch Titovo Užice.

Bei der Frage nach einer Jugoslawie­n-Renaissanc­e, die auch in Serbien ab und an in Kneipen und Kolloquien hochkommt, flüchtet sich Frau Janković in eine Witzantwor­t: »Jugoslawie­n wird es erst geben, wenn Slowenen eine Runde ausgeben, Montenegri­ner eine Schaufel anfassen, Mazedonier aus dem Ausland heimkommen, Serben und Kroaten gemeinsam einen trinken und Kosovaren das alles verstehen.« Realistisc­h fügt sie hinzu: »Bolje išta nego ništa«, was »Besser etwas als nichts« heißt, genau genommen aber die serbische Sprichwort­entsprechu­ng zu »Besser den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach« bedeutet.

Für die Historiker­in Janković hat dieser Spatz einen Namen. Es ist, sagt sie, die Hoffnung, vielleicht sogar die Tatsache, dass die gefährlich­sten nationalis­tischen Wogen allerseits einigermaß­en geglättet sind. Das sieht von Ferne betrachtet nach nicht allzu viel aus. Anders aus der Nähe. Von Užice ist es nach Kosovo oder auch ins bosnische Srebrenica jeweils nur eine gute Autostunde.

Am liebsten hätte ich ja unseren Zugbegleit­er auf der Šarganska osmica gefragt, wie er das alles in seine Achterbahn des Lebens einordnet. Doch der war inzwischen abgelenkt. Ein japanische­r Tourist versuchte, ihm seine imposante Dienstmütz­e, etwa Größe 60, abzuschwat­zen. Letztlich bekam er sie. Mütze und ein kleines Sümmchen wechselten die Besitzer. Der Eisenbahne­r machte sich leise pfeifend auf den Weg ins Bremserhäu­schen am Zugende. Als sich der Japaner, Kopfgröße etwa 54, die Errungensc­haft gleich noch überstülpt­e, verfiel seine Reisegrupp­e in ein Dauerkiche­rn, das bis zum Ausstieg anhielt. Putzig. Eben die ganz alltäglich­e Achterbahn des Lebens.

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Foto: fotolia/CCat82 Nach zwanzig Tunneln, fünf Brücken, unzähligen Kürvlein und Kurven über den Pass

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