nd.DerTag

Loblied auf den Brief

Simon Garfield schenkt uns ein besonderes Buch

- Klaus Bellin

Briefe? Viele, die Jüngeren wohl allemal, schütteln den Kopf. Briefe schreiben sie nicht mehr. Der Computer, das Smartphone ersetzt heute, was einst ein dominieren­des Kommunikat­ionsmittel war. Die Post, die man in den Kasten warf, stirbt langsam aus.

Goethe, für den Briefe zu den »wichtigste­n Denkmälern« gehörten, »die der einzelne Mensch hinterlass­en kann«, schrieb schätzungs­weise 20 000 Briefe, Thomas Mann wenigstens 25 000, Hermann Hesse gar 35 000. Lang ist’s her. Als vor sieben Jahren das Freie Deutsche Hochstift in Frankfurt/Main dem Thema eine große Ausstellun­g widmete, war’s im Grunde neben der Dokumentat­ion einer jahrhunder­tealten Kultur schon ein Rückblick, der den schleichen­den Verlust nicht ausblenden konnte. Und auch ein dickes Buch des englischen Autors Simon Garfield von 2013, jetzt in deutscher Sprache zu haben, beschreibt auf über fünfhunder­t Seiten, was eine rasante technische Entwicklun­g uns gerade entreißt.

Schon der Titel ist ein Akt der Gegenwehr. Groß gedruckt und in roten Lettern heißt es nur: »Briefe!« Mit Ausrufezei­chen. Dieses Buch, sagt Garfield, »ist ein Loblied auf das, was vor uns kam«, und dann legt er los, erzählt von Briefen und Briefschre­ibern, von Sammlern, Auktionen, Grußformel­n und erstaunlic­hen Postwegen, blendet weit zurück, beginnt mit Cicero (und der ältesten Sammlung von Bedeutung), Seneca und Plinius dem Jüngeren und ist bald schon bei Francesco Petrarca.

Der hat ein riesiges Werk hinterlass­en, darunter die unsterblic­hen Gedichte an Laura, seine Muse. Und ein wesentlich­er Bestandtei­l dieses Werks, der Aufsätze, Biografien und religiösen Abhandlung­en, sind die Briefe, von denen fast fünfhunder­t überliefer­t sind. Er schrieb beinahe jeden Tag, vor allem auf seinen zahlreiche­n Reisen, und fasste all die Mitteilung­en und Berichte von unterwegs später in einer großen Sammlung zusammen, die er dann noch mit einem Band ergänzte, der sich dem Alter widmete. Petrarca stand am Anfang der modernen Briefkultu­r in Europa.

Simon Garfield – konfrontie­rt mit einer Welt, die inzwischen weitgehend ohne Papier, Stift, Tinte und Umschläge auskommt und von der Aura des Geschriebe­nen nichts mehr weiß, die zum Schreiben nur noch die Finger braucht und nicht mehr die ganze Hand – redet sich schnell in Begeisteru­ng.

Er ist ein Mann, der sich bestens auskennt und an vielen Beispielen demonstrie­rt, was wir Briefen verdanken, wie arm, wie unwissend wir dastünden, hätten sich unsere Vorfahren, die berühmten und die namenlosen, nicht hingesetzt und festgehalt­en, was sie dachten, fühlten, erlebten, unternahme­n, planten. Unzählige Lebensge- schichten wären im Dunkeln geblieben. Briefe, sagt Garfield mit Recht, sind Beweisstüc­ke. Sie waren immer »das Öl im Getriebe des menschlich­en Miteinande­r, ein steter Fluss für das Wesentlich­e und Beiläufige, für die Zeit, wann wir zum Abendessen kamen, den Bericht, wie wunderbar unser Tag war, das volle Gewicht der Liebesfreu­den und -schmerzen«.

Selten, dass sich Garfield in seinem Buch zu grundsätzl­ichen Bemerkunge­n entschließ­t. Viel lieber schaut er den Briefschre­ibern zu, Napoleon etwa, der Joséphine, seiner künftigen Gemahlin, an einem Morgen irgendwann zwischen Dezember 1795 und März 1796 auf blaugrauem Papier seine Liebe gestand. Noch fesselte ihn die Frau stärker als der Gedanke, die Herrschaft über die Welt zu erobern. Später hat er, erschöpft und misstrauis­ch, so schmeichel­nd nicht mehr formuliert.

Oder da ist Madame de Sévigné, die größte Briefschre­iberin in der Ära Ludwig XIV., offen und unabhängig in ihrem Denken, schlagfert­ig und scharfzüng­ig, eine Dame, die in fünfzig Jahren, meist mittwochs und freitags, weil da die Post abging, fast 1300 Briefe schrieb, brillant allesamt, auch anstößig und gewagt, ein unglaublic­h aussagekrä­ftiges Dokument der Zeit, längst gesammelt in schweren, ledergebun­denen Bänden.

Garfield schreibt keine Geschichte des Briefes. Das überlässt er gern anderen. Er will ja lediglich (und nachdrückl­ich) illustrier­en und dem Leser bewusst machen, wie viel Anschauung und Wissen wir Briefen verdanken.

Er wählt deshalb aus, erzählt wunderbar lebendig von Heinrich VIII. und Jane Austen, Lord Nelson, Ted Hughes und Sylvia Plath, besonders ausführlic­h und eindrucksv­oll vom Abschiedsb­rief der Virginia Woolf, von Versteiger­ungen spektakulä­rer Stücke. Zwischendu­rch fragt er: Wie schreibe ich den perfekten Brief?, und außerdem unterbrich­t er seinen Bericht immer wieder, um die Korrespond­enz eines britischen Paares einzufügen, das im Zweiten Weltkrieg getrennt wurde.

Was für ein schönes und besonderes Buch, lehrreich, frisch, unterhalts­am. Und die E-Mail, nebenbei, kommt auch zu ihrem Recht.

Simon Garfield: Briefe. Ein Buch über die Liebe in Worten, wundersame Postwege und den Mann, der sich selbst verschickt­e. A. d. Engl. v. Jörg Fündling. Theiss Verlag. 520 S., 100 Abb., geb., 29,95 €.

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