Das Verbrechen
Sabine Rennefanz bricht ein Schweigen, das lange über ihrer Familie lag
Man könnte das neue Buch der Journalistin Sabine Rennefanz für ihren ersten Roman halten. Aber es ist keiner. Vielleicht liegt der Autorin, die mit ihrem autobiografischen Sachbuch »Eisenkinder. Die stille Wut der Wendegeneration« (2013) einen wichtigen Hintergrund der Radikalisierung Jugendlicher nach dem Ende der DDR aufgezeigt hat, das literarische Schreiben nicht. Ihre Sätze sind meist kurz und trocken, ihr Stil präzise, auf Fakten fixiert. Vielleicht war ihr die Geschichte, die sie im Buch »Die Mutter meiner Mutter« erzählt, aber auch einfach zu nahe, um sie konsequent zu fiktionalisieren.
Es ist die Geschichte eines Verbrechens, von dem lange im Vagen bleibt, worin es bestand. Der erste Satz, »Ich habe etwas über deinen Großvater herausgefunden, flüstert meine Mutter«, öffnet den Raum in die Tiefe der Vergangenheit, die hier in Rückblenden ausgeschritten werden wird. Vom Aufwachsen der Erzählerin in einem Dorf in der DDR der 70er, 80er Jahre führt diese Reise zurück in die unmittelbare Nachkriegszeit, als in diesem Ort namens Kosakenberg die Großeltern aufeinandertrafen, ein leidgeprüftes Flüchtlingsmädchen aus dem Osten und ein zwanzig Jahre älterer zurückkehrender Wehrmachtssoldat, den die Dorfbewohner schon für tot gehalten hatten. Aber auch die Kriegs- und Vorkriegsjahre werden ausgeleuchtet, die Kindheit des Mädchens, das zur Großmutter der Erzählerin werden wird; der Vater ein Frauenschwarm und Bahnwärter, auf dessen Gleisen irgendwann verriegelte Viehwaggons voller Menschen parken, auf der Reise in den Tod. »Wenn das mal rauskommt, was die Deutschen gemacht haben«, sagt der Mann einmal zu seiner Tochter, »dann gnade uns Gott«. Kurz vor der Flucht wird er, der Urgroßvater der Erzählerin, von sowjetischen Soldaten »abgeholt« und bleibt fortan verschollen. Auf die Flucht geht das Mädchen mit ihrer feindseligen Stiefmutter und den drei jüngeren Brüdern, von denen der kleinste, Karl, Kosakenberg nicht erreichen wird.
Im Laufe dieser Geschichte, die sich über vier Generationen erstreckt, ereignet sich jenes Verbrechen, das wie ein Fluch auf der Familie der Erzählerin zu liegen scheint und bis in die Gegenwart fortwirkt. Ein Fluch, in dem auf makabre Weise gleichzeitig ein Segen liegt: der Segen der Geburt. Ohne diesen Vorfall, das Verbrechen, würde es die Mutter nicht geben und folglich die Erzählerin nicht. Es gäbe nicht dieses Buch.
Sabine Rennefanz ist für ihren Mut zu bewundern, den Inhalt dieser lange verschwiegenen Geschichte so tabulos offenzulegen. In der Wahl der Erzählform war sie leider weniger entschlossen. »Namen, Orte und Personenbeschreibungen wurden auf Wunsch der Lebenden geändert«, heißt es in einer kurzen Vorbemerkung. Gegen diese Art der Verfremdung ist überhaupt nichts einzuwenden, im Gegenteil: Es hätte dem Buch gutgetan, sie zum Anlass einer viel umfassenderen Fiktionalisierung zu nehmen. »Aus Rücksicht auf die Toten«, heißt es indessen im nächsten Satz der Vorbemerkung, »wird die Handlung so wahrheitsgetreu wie möglich wiedergegeben«.
Der Widerspruch ist virulent. Zum einen schildert die Ich-Erzählerin ihre eigenen Beobachtungen glaubhaft authentisch, prüft gewissenhaft ihre Erinnerung und protokolliert, was ihr von der Mutter zugetragen wird. Zum anderen schmückt sie Vorfälle aus einer Vergangenheit, die weit vor ihrer eigenen Zeit lagen, in einer Detailgenauigkeit aus, die deshalb verwirrt, weil man nicht weiß, woher sie das Erzählte so genau weiß. Zwar beginnen die entsprechenden Passagen manchmal mit Formulierungen wie »Ich stelle mir vor, dass ...«, aber weil gerade dann die interessantesten, nachdenklichsten, am innigsten berührenden Szenen folgen, fühle ich mich als Leser in die Irre geführt. Hier, wo der vorgebliche Bericht sich zum freien Fantasieren bekennt, gewinnt die Vorstellungskraft ihm die größte Wahrhaftigkeit ab.
Dass Sabine Rennefanz’ Buch trotz dieser formalen Schwäche einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt, hat insbesondere zwei Gründe. Zum einen beschreibt sie historische Katastrophen in größtmöglicher Annäherung. Das Unfassbare wird fassbar, weil es im Mikrokosmos eines Dorfes festgemacht wird, in dem noch die Beschaffenheit einer Inneneinrichtung größte Bedeutung hat. Zum anderen scheinen in der Figur des Großvaters die verborgenen Abgründe eines innig geliebten Menschen auf, in die noch die Nachgeborenen unweigerlich irgendwann zu stürzen drohen – zumindest, solange sich alle davor scheuen, diese Abgründe als solche offenzulegen. Indem sie das tut, gelingt es der Erzählerin zugleich, der als unnahbar und spröde erlebten Großmutter endlich mit Liebe zu begegnen.
Sabine Rennefanz: Die Mutter meiner Mutter. Luchterhand. 256 S., geb., 19,99 €.