Unerklärliches Gehügel im Milchglasnost
Vielfältig und bunt: ein Sammelband mit Thüringen-Gedichten aus fünfzig Jahren
Die beiden Herausgeber verkörpern mit Mitte dreißig bis Mitte vierzig eher die »jüngere Generation«. Dazu gehört die knappe Hälfte der hier Gedruckten, heißen sie nun Diana Hellwig oder André Schinkel, Bärbel Klässner oder Jan Wagner. Wenige sind mit drei, vier Texten vertreten, die meisten nur mit einem oder zwei Gedichten.
Es gab einst die Lehre von den »drei Quellen und drei Bestandteilen«, welche auch für die Betrachtung dieses Bandes angewandt werden kann. So sind Ortsnamen Bestandteile: Erfurt, Weimar und auch Jena schlagen Dörfer und Städtchen Nord- und Südthüringens um Längen. Greiz und Gera lugen vom Rande; über den Rennsteig kommt Römhild und darunter der Brandleite-Tunnel. Wahloder Geburtsheimat ist keine Frage. Worte lassen Bedeutung aufscheinen: Buchenwald, Grenzstreifen, Gloriosa.
Der von der Literarischen Gesellschaft Thüringen beförderte, in der EDITION MUSCHELKALK erschienene Band schöpft viel aus der »ThüringenBibliothek«, die von Wulf Kirsten 1997 begründet und später von Kai Agthe herausgegeben wurde. Bislang 50 schmale Bände gaben prominenten Schriftstellern ebenso Raum wie Debütanten. So steht mancher seit langem zu Thüringen gehören- de Dichter, oft schon verstorben, mit herausragenden Texten in diesem Band: Gisela Kraft, Harald Gerlach, Hanns Cibulka, Walter Werner, Uwe Grüning, Reiner Kunze; man ist geneigt, die »Sächsische Dichterschule« folgen zu lassen: Volker Braun, Heinz Czechowski, Wilhelm Bartsch, Wulf Kirsten und am Berliner bzw. norddeutschem Rand Günter Kunert. Viele stellten sich erstmals auf »Poetenseminaren« vor, wo von 1970 bis 1989 in Schwerin Vers-Lehren und Leviten gelesen wurden. Das Jugendlyrikprogramm der DDR: Gabriele Eckart, Steffen Mensching, Jürgen Fuchs, Holger Uske, Lutz Seiler, Siegfried Nucke, Hans-Jürgen Döring, Lutz Rathenow, Udo Degener, Gerald Höfer, Brigitte Struzyk, Ralph Grüneberger, Kerstin Hensel, Richard Pietraß ...
Bliebe als dritte größere Quelle mit Thüringen Verbundene, die beim »Jungen Literaturforum Hessen-Thüringen« (jährlich bis 1000 Einsendungen!) aufmerken ließen oder die Literaturburg Ranis zur Werkstatt »art & wiese« bevölkerten: An prominenten Stellen im Buch Daniela Danz, daneben Christian Rosenau, Jan Volker Röh- nert, Peter Neumann, Kristina Stanczewski, Moritz Gause. Die Herausgeber gliederten ihr Material in zehn Gruppen, jeweils Zeilen zitierend. (Ein Zusammenschnitt der ersten und letzten Abteilung bildet die Überschrift dieser Rezension.) Die Anordnung schafft reizvolle Überblendungen von Orten: Dem historischen Friedhof zu Weimar folgen Ettersberg- und Buchenwald-Gedichte. Einem der ältesten Beiträger, Gerhard Tänzer, geboren 1937, folgt auf der Nordhäuser Spur Christian Kreis, geboren 1977. Nach Gerlachs Jenaer Porträtgedichten (Hölderlin, Johann Christian Günther) kommt Rathenows »Bücherverbrennung. Jena (1976)«.
Sprachwitz und Sprachkraft gibt es bei Wilhelm Bartschs »Guthaben« (»Wie hab ich es gut auf der Ilmtal-Bank noch«) oder bei Kerstin Hensel. Ihre »Weimar’sche Hängung« spielt auf gehenkte Bilder im Gau-Forum an – tabula rasa mit DDR-Kunst zum 250. Geburtstag Goethes. Menschings »Altenburger Elegie« hat nur mit Skat-Redensarten, Politik und Umsturz zu tun, von Politik ist ansonsten hier wenig zu finden.
Und weil wir nun doch bei Fehlstellen sind: Sarah Kirsch (aus Limlingerode) und Kathrin Schmidt (aus Waltershausen) hätte der Begutachter gern gefunden.
Thüringen im Licht – Gedichte aus fünfzig Jahren. Hg. v. Ron Winkler & Nancy Hünger, Wartburg Verlag. 269 S., br., 18 €.