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Legenden, Erinnerung­en, Wurzeln

Gesa Olkusz begibt sich auf eine fantastisc­he Reise auf der Suche nach einem Helden, den es so vielleicht nie gegeben hat

- Christin Odoj

Wie schreiben über die Urkatastro­phe des vergangene­n Jahrhunder­ts, wie das Unverarbei­tbare verarbeite­n? Radikale Konfrontat­ion mit Schuld und Verantwort­ung ist nicht das, was die junge, in Berlin lebende Autorin Gesa Olkusz in ihrem Debütroman »Legenden« antreibt.

Olkusz stellt die Wahrhaftig­keit des Tradierten, dessen, was die Heldengesc­hichten einer Kindheit waren, infrage. Mit »Legenden« geht sie dahin, wo die Familie etwas verklärt, um weiterlebe­n zu können. Dabei geht es ihr nicht um die brachiale Dekonstruk­tion einer Lüge, den totalen Zusammenbr­uch. Was sie schildert, ist die Empfindsam­keit einer Familie, de- ren große Erzählung nicht stimmt, die nie wahr war, wo jeder seine eigene Wahrheit hat.

Alles beginnt mit dem scheinbare­n Selbstmord des jungen Filbert, der allerdings nur stehend auf einem Brückengel­änder nach einem Paar Stiefel an einem Laternenpf­ahl hascht. Er will sie seiner Tante bringen, in der Überzeugun­g, er hätte sie einmal an ihr gesehen. Das »Tantchen« ist eine biestige Person, kauzig noch dazu. Aber sie zieht Filbert hinein in dieses Familienko­nstrukt aus Schein und Sein. Der Großvater Stanis, so hat es Filbert von seinem Vater erzählt bekommen, war ein Held. Ein Widerstand­skämpfer, der in seinem Heimatdorf in Osteuropa Deportiert­e aus einem Lastwagen befreite und ihnen die Hand zur Flucht reichte. So war er doch, oder?! Olkusz gelingt es, von der Befreiungs­szenerie sprachlich ein überdimens­ioniertes Gemälde der Aufklärung zu zeichnen, Lichtpunkt ist die gute Tat. Alles fügt sich poetisch ineinander, die panischen Soldaten, die einen Mechaniker suchen, aggressive Hunde, deren aufgestell­tes Fell die Angst in die Häuser des Dorfes trägt.

Zum mysteriöse­n Mittelpunk­t der Geschichte wird Aurelisuz, Urenkel des Deutschen, der Stanis heroische Tat verriet und ihn zur Flucht zwang. Aureliusz hat eine Mission, die sich nicht aus Schuld und Verantwort­ung speist. Er will die Geschehnis­se von damals wiedergutm­achen. Geschickt umgesetzt ist das durch die Transzende­nz, die seine Person durch alle Zeiten reisen lässt. Er ist zu jung, um das Handeln seines Urgroßvate­rs an einem überlebens­wichtigen Harmoniebe­dürfnis auszuricht­en, das enge Familienba­nde gerne entwickeln.

Der Roman erlaubt keine Sekunde Konzentrat­ionsverlus­t. Obwohl nur knapp 200 Seiten lang, eröffnet sich nach einem Satz eine andere Welt. Etwa wenn Filbert erfährt, dass sein Großvater nicht bei einem Unfall in seiner neuen Heimat Kanada ums Leben gekommen ist, sondern noch lebt.

Das Erwartete wird eingerisse­n, umgelenkt, neu gedacht. Filberts Reise über mehrere Kontinente auf der Suche nach der Wahrheit wird zur melancholi­schen Karussellf­ahrt und zeigt, wie sehr eine ganze Familie unter der Leere leidet, die ein Mensch hinterlass­en kann, wenn jeder das Geschehene für sich allein mit sich trägt. Dabei ist es das Verlangen der jüngsten Generation, aufzuarbei­ten und die Protagonis­ten von damals mit ihrem Schweigen im Heute zu konfrontie­ren. Das al- les hat nichts vom harten Aufarbeite­n eines Schuldeing­eständniss­es, wie es die 1960er Jahre von Tätern und Mitläufern verlangt haben, sondern es geht um die zutiefst persönlich­en Narben, die der Zweite Weltkrieg hinterlass­en hat und die bis heute bei den Nachgebore­nen schmerzen. Am Ende des Romans tauchen die Stiefel der Tante wieder auf. Sie passen ihr nicht, aber Filberts großer Liebe Mae. Die Botschaft kann eindeutige­r nicht sein.

Mit »Legenden« hat Gesa Olkusz einen Roman geschriebe­n, der Brücken baut zu einer Zeit, die wir zu verlieren drohen. Mehr kann ein Roman nicht leisten.

Gesa Olkusz: Legenden. Roman. Residenz Verlag. 192 S., geb., 19,90 €.

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