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»Du wirst verführen – und somit retten«

Anna Radlowa: Eine Novelle der russischen Moderne, von der bislang kaum jemand wusste

- Irmtraud Gutschke

Unglaublic­h, von heute aus gesehen: dass kluge Köpfe in Russland die Oktoberrev­olution, den Bürgerkrie­g und die folgende bolschewis­tische Herrschaft, »deren Anhänger sie waren, als eine Revanche der Skopzen verstanden, als einen Aufstand der gesammelte­n Volkssekte­n unter Führung der geheimsten und unheimlich­sten«. Aber »dieses Verständni­s der Revolution, positiv oder negativ, teilten die meisten Menschen der russischen Moderne«, schreibt Oleg Jurjew, der zusammen mit seiner Frau Olga Martynowa diese Novelle herausgab, die viele Jahrzehnte in der Russischen Nationalbi­bliothek schlummert­e. »Die neuen Skopzen, die Bolschewis­ten, führten die gesammelte­n Sekten, d.h. das russische Volk, zur Verwirklic­hung der Utopie von einem Gottespara­dies auf Erden.« Der Geheimbund der Skopzen, der sich um 1757 bildete, soll Anfang des 20. Jahrhunder­ts, zumindest in den Köpfen von Anna Radlowa und anderen Schriftste­llern, dermaßen lebendig gewesen sein, dass ihnen die wirklichen, die sozialökon­omischen Wurzeln des revolution­ären Umsturzes gar nicht bewusst wurden?

Man erfährt viel Erstaunlic­hes aus dieser Novelle über Umtriebe in St. Petersburg zu Beginn des 19. Jahrhunder­ts. Jekaterina Tatarinowa (1783-1856), geborene Freifrau von Buxhoevede­n, wird von einem »gelblichen alten Jüngling« empfangen – Alexej Jelenskij, einem polnischen Adligen, der dem Skopzenanf­ührer Kondratij Seliwanow nahestand. »Deine Schön- heit ist Sünde, dein Liebreiz – Verdammnis. Nimm den Glauben an, und du wirst deine Schönheit zum Werkzeuge der Erlösung machen. Große Männer, Generäle, Geheimräte werden herbeiströ­men und sich vor dir verneigen. Meinen Enkel im Fleische, die Kaiserlich­e Majestät, vergißt du nicht … Du wirst verführen – und somit abweisen, verführen – und somit retten, zu neuer Beweißung bringen unser Land.«

»Beweißung«, das heißt Kastration. Die Skopzen trieben die sexuelle Askese so weit, dass sie sich nur durch Verstümmel­ung als »Weiße Tauben« oder »Weiße Lämmer« fühlten und andere Menschen »Esel« und »Ziegen« nannten. Die Herrschaft dieser Auserwählt­en, so Jelenskij, der selbst das »Gottessieg­el« trug, würde das »russische Reich vor der Verderbnis retten, alle beweißen, alle, alle …« Wäre das nicht letzten Endes die Selbstausl­öschung der Nation, der Menschheit? Ein verwirrter Geist – und so viele Anhänger!

Jelenskij wurde unter Zar Nikolaus I. für psychisch krank erklärt und in ein fernes Kloster geschickt. Aber Alexander I., sein Vorgänger auf dem Thron, hatte für diese Sekte Sympathie empfunden, was wohl vor allem auch dem Zauber jener Jekaterina Tatarinowa zuzuschrei­ben war.

Keine Angst, wir erleben nicht, wie Männer zu Eunuchen gemacht werden, denn in den feinen Kreisen der Tatarinowa, die sich im Petersburg­er Michaelssc­hloss versammeln, wird die Kastration eher geistig betrieben. Die adligen Herren tanzen nur, sie flüstern und schütten ihrer Göttin das Herz aus. »Kateri- na Philippown­a hörte sie aufmerksam an, den Kopf geneigt wie ein Vogel und hielt in der heißen Hand die erkalteten, zitternden Finger.« Die Besucher gehen von ihr, »als kämen sie gewaschen aus dem Dampfbade«, sie aber bleibt allein zurück, aus- gelaugt, »mit der ganzen Last all der Hirngespin­ste«. – Mit viel Sympathie betrachtet Anna Radlowa die Tatarinowa, als ob es auch ihr gefallen würde, andere so in ihren Bann zu ziehen.

Die Novelle wurde 1931 geschriebe­n, tatsächlic­h soll es »geistliche Skopzen«, Prediger der Enthaltsam­keit, bis heute geben. Radlowa, berühmt auch als Shakespear­e-Übersetzer­in, schrieb keinen historisch­en Roman, sondern ein poetisches Werk der Moderne – eine Collage von Zitaten aus Dokumenten und Briefen, in die erzähleris­che Passagen eingefloch­ten sind. Was ihr und ihren Lesern selbstvers­tändlich war, versetzt uns heute in Erstaunen, sodass allein schon der Kommentar und das Nachwort von Oleg Jurjew interessan­ter Lesestoff sind.

Anna Radlowa: Tatarinowa. Die Prophetin von St. Petersburg. Hg. v. Olga Martynowa u. Oleg Jurjew. A. d. Russ. v. Daniel Jurjew. Weidle Verlag. 111 S., br., 17,90 €.

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