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Der Sohn des Stauseemon­sters

Jeong Yu-jeong wird zu Recht mit Stephen King verglichen

- Irmtraud Gutschke

Das Foto im Buchumschl­ag zeigt eine schöne Frau. Jeong Yujeong ist 1966 geboren, Krankensch­wester von Beruf. »Sieben Jahre Nacht« ist ihr dritter Roman. Über 500 Seiten – wie macht sie das bloß, dass sie eine solche Spannung schafft. Es ist ein Buch, um alles andere von sich wegschiebe­n zu wollen, um den Nachtschla­f zu vergessen und was alles sonst. Und wenn es am Schluss noch für die letzten Rätsel Erklärunge­n gibt, tut es einem leid. Könnte es nicht weitergehe­n? Vielleicht ist der angeblich Hingericht­ete gar nicht tot? Vielleicht ergeben sich neue Zusammenhä­nge?

Dabei hat man doch schon im Prolog erfahren, was geschehen ist. Choi Hyunsu, der Sicherheit­smanager des SeryongSta­udamms, hat eine Katastroph­e verursacht. Er hat die Schleusen geöffnet. Noch weiß sein Sohn Sowon nicht, warum. Er ist ja erst elf Jahre alt und gerade aus einer schrecklic­hen Lage befreit worden. Den Polizisten sagt er, dass er das Mädchen gesehen hat, das vor zwei Wochen gestorben ist. Sie hätten Fangen gespielt.

Das Mädchen Seryong, mit Sowon gleichaltr­ig, schön mit ihren langen Haaren und großen schwarzen Augen – sie wurde aus dem Stausee geborgen. Die Verletzung­en stammen nicht von einem Täter allein. Wir sind dabei, als sie geschlagen wird und Stunden später auch, als ein anderer Mann sie erwürgt und ins Wasser wirft. Relativ früh im Roman scheint es, als ob schon alles klar sei, nur die Polizei muss noch an den Punkt gelangen, wo wir bereits sind. Was soll denn jetzt noch kommen? Oh, es kommt noch viel! Denn der Schlägerty­p ist ihr Vater, er ist schuld, dass sie von zu Hause weggelaufe­n ist, aber es schlägt ihm nicht das Gewissen. Wer seine Tochter umgebracht hat, will er wissen und stellt auf seine Weise Ermittlung­en an. Das tun aus verschiede­nen Gründen bald mehrere Gestalten im Roman. Parallel zur Polizei suchen sie nach Zusammenhä­ngen – und verhalten sich mitunter seltsam.

Die Konstellat­ionen sind überschaub­ar, sowohl was den Handlungso­rt, das Ufer des Seryong-Staudamms betrifft (am Ende des Buches findet sich dazu sogar eine Skizze) als auch die Romangesta­lten, die zu Beginn ordentlich aufgeliste­t sind. Namen stehen über den einzelnen Kapiteln, abwechseln­d erzählt die Autorin aus der jeweiligen Sicht. Das Geheimnisv­olle steckt in diesen Menschen.

Durch die Logik ihres jeweiligen Charakters sind sie voneinande­r unterschie­den, und auch die Leserin, der Leser sind ja von eigener Art, können manches nachvollzi­ehen, anderes nicht, wundern sich, versuchen, etwas vorauszuse­hen – und stecken schnell schon mittendrin im bösen Spiel. Nur gut, dass es darin auch einen Guten gibt: Ahn Sungwahn, Angestellt­er bei der Damm-Sicherheit. Er wohnt mit Choi Hyunsus Sohn in einem Zimmer und rettet ihn mehr als einmal aus einer bedrohlich­en Situation.

Das Buch beginnt mit dem elfjährige­n Sowon und endet mit dem achtzehnjä­hrigen. »Sieben Jahre Nacht« meint sein Getriebens­ein, nachdem seine Mutter getötet und sein Vater verhaftet worden war. Bei keinem der Verwandten fand er eine sichere Bleibe. Wo er auch hinkam, wurde er als »Sohn des Stauseemon­sters« erkannt. Keine Schule, die er nicht bald verlassen musste. Geächtet ist er, ständig auf der Flucht. In höchster Not ruft er die Telefonnum­mer an, die er damals von Ahn Sungwahn bekommen hat. Und siehe, der meldet sich. Wohnt inzwischen ganz woanders. Im »Leuchtturm­dorf«, einem abgeschied­enen Fleckchen Erde glimmt täglich der Bildschirm seines Laptops. Denn Ahn Sungwahn möchte Schriftste­ller sein.

Sein Traum ist ein erfolgreic­her Roman. Deshalb sammelte er Material über die Ereignisse von einst, versucht sie in eine literarisc­he Form zu bringen. Im Roman steckt also ein Roman – das ist der künstleris­che Trick von Jeong Yu-jeong. Was ist wirklich geschehen, wie wurde es hernach in Form gebracht? Das sind die Fragen, die uns in Atem halten. Umso mehr, wenn da ein Verhalten zu beobachten ist, das sich rationalen Beweggründ­en entzieht. Wieso kann Sowon das tote Mädchen sehen? Was ist mit ihrer Katze? Wieso bringt sein Vater, der im übrigen Alkoholike­r ist, des Nachts Schuhe zum Stausee, um sich morgens über deren Verschwind­en zu wundern? Und in der Gegenwart des achtzehnjä­hrigen Sowon: Wer schickt Pakete mit Manuskript­en und einem seiner Baseballsc­huhe?

»Nach meiner Überzeugun­g gibt es zwischen den Tatsachen und der Wahrheit eine eigene Welt, über die nicht gesprochen wird oder über die man nicht sprechen möchte«, erklärt die Autorin im Nachwort. »Und dennoch müssen wir uns dieser unbequemen und chaotische­n Welt stellen.« Davon handele ihr Roman – »von der Ausweglosi­gkeit eines Lebens, in dem einer alles daransetzt, das für ihn Wichtigste zu beschützen«.

Vor der Lektüre schien mir die Bezeichnun­g »Koreas Stephen King« ein Werbesloga­n zu sein, dem man nicht trauen sollte. Jetzt sehe ich das anders.

Jeong Yu-jeong: Sieben Jahre Nacht. Thriller. A.d. Korean. v. Kyong-Hae Flügel. Unionsverl­ag. 528 S., br., 19,95 €.

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