nd.DerTag

»Ich bin wie Gott«

Yasmina Khadra gelingt eine Rückschau auf ein atemberaub­endes Stück arabische Geschichte

- Roland Etzel

»Ich sterbe als Märtyrer und gehe als Neugeboren­er in die Legende ein. Ich bin kein Rais mehr, sondern ein Prophet: Stirb und werde – ich werde in künftigen Zeiten höher hinaufwach­sen als jeder Berg.« – Vielleicht ist das der Kernsatz des Buches über den libyschen »Rais«. Ein Solcher – sprich ra'is – bezeichnet in der arabischen Welt einen Führer oder den Chef eines Clans, heutzutage auch einen Präsidente­n. Es ist ein ehrenhafte­r Titel. Ob Muammar al-Gaddafi in seinen vermeintli­ch letzten Worten tatsächlic­h von sich als Ra'is gesprochen hat? Wir wissen es nicht. Was wir wissen, ist, dass Gaddafi eigentlich alle herkömmlic­hen Bezeichnun­gen für eine Staatsstru­ktur verachtete. Sein Libyen war keine Republik, sondern – schwer übersetzba­r – eine Art Staat der Volksmasse­n, und er selbst nannte sich nicht Präsident, sondern Revolution­sführer.

Sei’s drum. Der Autor macht glaubhaft, dass er versucht hat, tief ins Ich Gaddafis einzudring­en und wird seine Worte nicht grundlos gewählt haben. Von Übersetzer­in Regina Keil-Sagawe ist das nicht weniger anzunehmen. Yasmina Khadra, der eigentlich Mohammed Moulesseho­ul heißt und aus dem Nachbarlan­d Algerien stammt, weiß wohl, dass Gaddafis Revolution auch eine war. Aber er ist nicht Historiker, sondern Schriftste­ller, und nach der Lektüre dieses Büchleins möchte man ihn noch lieber Dichter nennen. Er lässt den Leser – ohne es mit Worten einzugeste­hen – von Anfang an nicht im Unklaren, dass es bei ihm um Fiktives geht. Er bietet seine Rückschau auf ein atemberaub­endes Stück arabische Geschichte an. Es ist dann nicht mehr wichtig, ob er Verbürgtes seines Helden mitteilt oder nicht. Sein Bild von Gaddafi ist mehr Präsentati­on einer Kunstfigur als Biografie einer realen Person. Steckt darin am Ende mehr Khadra als Gaddafi? Warum nicht? Auch Fausts letzte Worte sind allein die Goethes, und keiner fragt. Was er als wahrhaftig ansieht, entscheide­t der Leser.

Fürs Lesevergnü­gen ist Khadras fiktiver Report sicher eine geeignete Form, sich der Person Gaddafi zu nähern. Spätestens hier enden alle Parallelen zu Faust, denn »Bruder Oberst«, wie er sich gern nennen ließ, nahm ein schlimmes Ende, wurde auf grässliche Weise zu Tode massakrier­t. Khadra schildert die letzten Tage und Stunden in der Ich-Form; versucht nachzuempf­inden, was Gaddafis Gedanken gewesen sein mögen. Da sehen wir einen selbstverl­iebten Führer, der auch angesichts der Übermacht und Unerbittli­chkeit seiner Feinde jegliche Reue verachtet. Im Gegenteil: »Libyen verdankt mir alles«, lässt Khadra Gaddafi räsonieren. »Wenn das Land heute in Rauch aufgeht, dann, weil es meiner Güte nicht würdig ist.« Und: »Ich bin wie Gott: Die Welt, die ich einst erschuf, wendet sich gegen mich.«

Alle, die er in über 40 Jahren Herrschaft in den Staub trat, und das waren nicht wenige, und Pardon ward nie gegeben, müssen nach dieser Selbsterhö­hung keine Skrupel haben, ihn zu verdammen. Kannte er gar keine Selbstzwei­fel, Schwäche, Angst? Doch, ein wenig, meint Khadra wohl, indem er ihn sagen lässt: »Hat dieses Volk mich je geliebt? Oder war es nur der Spiegel, in dem mir mein eigener grenzenlos­er Narzissmus entgegen- schlug?« Und sogar Wehmut: »Hätte ich nur auf Hugo Chávez gehört, der mir seine Protektion anbot; dann säße ich jetzt irgendwo in Venezuela und könnte mir noch ein paar geruhsame Jährchen machen, statt in einer dunklen Betonröhre auf meine Henker zu warten. Wie konnte ich nur derart dumm sein?« Doch ehe der Gedanke Raum greifen kann, der Ra'is fühlte vielleicht doch wie ein gewöhnlich Sterbliche­r mit auch kleinmütig­en Momenten, wird dies vom Tisch gewischt: »Ich bereue nicht, hart durchgegri­ffen zu haben. Das war legitim und notwendig.«

Khadra bietet bis zur letzten Seite spannende Lektüre. Man weiß danach sehr viel über den Sohn eines Beduinen, der als Offizier mit 27 (!) seinen König stürzte, halb Afrika beschenkte, von seinen kühnen sozialen Ideen ebenso wie von seinem schwer erträglich­en Hochmut, seinem antidiplom­atischen Regierungs­stil, den absurden Grausamkei­ten und der entwaffnen­den Generositä­t. Der Leser mag selbst entscheide­n, welche Charakterz­üge und Taten dieses ungewöhnli­chen Menschen ihm als die dominieren­den erscheinen.

Es hätte also kaum des belehrende­n PC-durchtränk­ten Klappentex­tes bedurft, der den Leser im Vorhinein darauf festnagelt, dass es sich hier um »einen der größten Diktatoren der jüngsten Geschichte« handelt und keinesfall­s »um eine Solidaritä­tsbekundun­g mit einem Tyrannen«. Möge man sich doch an Marquis von Posas Wort in Schillers »Don Carlos« erinnern: »Sire, Geben Sie Gedankenfr­eiheit!«

Yasmina Khadra: Die letzte Nacht des Muammar al-Gaddafi. Roman. A. d. Franz. v. Regina Keil-Sagawe. Osburg Verlag. 180 S., geb., 20 €.

Newspapers in German

Newspapers from Germany