nd.DerTag

Das Geschenk des Daseins

Henning Mankell: Sein letztes Buch ist eine Art Autobiogra­phie

- Peter L. Zweig

Ende Dezember 2013 bekam Henning Mankell Schmerzen im Nacken, glaubte an einen beginnende­n Bandscheib­envorfall und begab sich in ärztliche Behandlung. Mitte Januar stand die Diagnose fest: Krebs, bereits gestreut. In der heutigen Zeit kein Todesurtei­l, aber ein Grund, ernsthaft über das Geschenk des Lebens und den Umgang damit nachzudenk­en. Mankell registrier­t als erste intellektu­elle Reaktion auf die Diagnose ein geschärfte­s Erinnerung­svermögen.

Das Ergebnis liegt nun auch in deutscher Sprache vor. »Treibsand« ist eine Art Autobiogra­phie in Episoden, eine Selbstverg­ewisserung und Bestandsau­fnahme, geschriebe­n vor dem Hintergrun­d der Erkrankung. Der Titel bezieht sich auf eine kindliche Todesfanta­sie. Mankell, der in Härjedalen im Norden Schwedens aufwuchs, träumte, im Eis einzubrech­en und zu ertrinken, eine ganz reale Gefahr, aber auch, inspiriert durch eine Lektüre, vom Treibsand verschlung­en zu werden. Dieser Dualismus war charakteri­stisch für den Theaterman­n und Schriftste­ller. Als ein von der 68er Bewegung geprägter linker Intellektu­eller war er in der realen Welt verwurzelt; die Kunst war ihm ein Mittel, dem Leben eine weitere Dimension zu verleihen. Herkunft und Welterfahr­ung durch Reisen, Gespräche, Lektüre wurden Grundlagen seines Denkens und Wirkens. In seinen Werken verbinden sich das Wirkliche und das Mögliche. Wobei das Mögliche nichts Erträumtes, sondern das durch Arbeit an sich selbst und der Gesellscha­ft Erreichbar­e ist.

In »Treibsand« geht es aber noch um ein weiteres Span- nungsfeld, nämlich zwischen Vergangenh­eit und Gegenwart. Mankell berichtet von einer Reise nach Timbuktu, zu den tausendjäh­rigen Manuskript­en aus der Frühgeschi­chte Afrikas, das viele überheblic­h als den geschichts­losen Kontinent bezeichnen. Diese Überliefer­ungen sind älter als die meisten Zeugnisse, auf die sich Europäer so gern und stolz berufen. Mankell ist aber nicht vordringli­ch am Inhalt dieser Schriften interes- siert, sondern daran, wie mit der Geschichte umgegangen wird. Was war, hat für ihn nur private wie gesellscha­ftliche Relevanz, wenn es mit dem, was ist, verbunden wird, wenn es zu Gedanken oder Handlungen führt. So erzählt er im 67. und letzten Kapitel von dem ergreifend­sten Moment in seinem Theaterleb­en. In dem von ihm geleiteten Teatro Avenida in Maputo wird im Oktober 1992 das mehr als zweitausen­d Jahre alte Drama »Lysistrate« von Aristophan­es aufgeführt. Nach dem begeistert­en Schlussapp­laus tritt die Schauspiel­erin Lucrecia Paco vor das Publikum, redet von dem Friedensab­kommen in Rom und vom Ende des Krieges, verspricht aber auch, dass »wir das Stück wieder spielen werden, wenn es notwendig ist. Wir, wie auch ihr, werden nie aufgeben.«

Was ist, das ist für Henning Mankell beim Schreiben dieses Buches die Krankheit. Am 9. Mai 2014 fühlt er sich wie auf dem Weg ins Theater. Nicht auf oder hinter die Bühne, sondern in den Zuschauerr­aum. Auf der Bühne, nahe an der Rampe sitzt sein Arzt, der ihm nach vier Chemothera­pien Mut macht: »Einige Tumore sind kleiner geworden, andere sind ganz verschwund­en. Das heißt natürlich nicht, dass Sie jetzt ganz gesund sind. Aber wir haben eine Atempause. Und eine Atempause kann lange dauern.« Mankell freut sich auf »neue begnadete Augenblick­e. In denen mir niemand die Freude nimmt, selbst etwas zu schaffen oder etwas zu sehen, was andere geschaffen haben.«

Es war eine viel zu kurze Atempause. Am 5. Oktober 2015 starb Henning Mankell an Krebs.

Henning Mankell: Treibsand. Was es heißt, ein Mensch zu sein. A. d. Schwed. v. Wolfgang Butt. Paul Zsolnay Verlag. 383 S., geb., 24,90 €.

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