»Das Volk wird frei werden!«
Eine Thomas-Müntzer-Biografie von Hans-Jürgen Goertz
Seit der Eröffnung der »Lutherdekade« im Herbst 2008 sind die Stimmen nicht verstummt, die davor warnen, anlässlich des 500-jährigen Reformationsjubiläums allein Martin Luther zu würdigen. Denn für eine als notwendig erkannte Reformation setzten sich auch andere Persönlichkeiten ein, unter ihnen Thomas Müntzer (um 14891525). Wer sich für den radikalen Reformator interessiert und etwas über sein Leben und sein Verständnis von Glaube und göttlicher Ordnung erfahren möchte, der trifft auf eine historische Persönlichkeit, die angesichts ihres konsequenten Handelns in den religiösen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen am Anfang des 16. Jahrhunderts bis in unsere Gegenwart hinein wirkt.
Hans-Jürgen Goertz, emeritierter Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Hamburg und seit 2008 Vorsitzender der ThomasMüntzer-Gesellschaft e. V., hat sich erneut Müntzer zugewandt. Über den umtriebigen Theologen sind im Unterschied zu anderen Reformatoren, beispielsweise Huldrych Zwingli oder Jean Calvin (ganz zu schweigen von Luther), nur wenige durch Quellen belegbare Informationen überliefert. Die Anzahl seiner Schriften ist begrenzt, und von seiner Korrespondenz ist nur ein Bruchteil erhalten geblieben. Andere persönliche Zeugnisse fehlen weithin. Angesichts dieser schmalen Quellenlage hütet sich Goertz vor nicht belegbaren Aussagen, und das Buch möchte er deshalb auch als biographischen Essay verstanden wissen. Chronologisch gegliedert ver- folgt er die Spuren des Reformators an unterschiedlichen Orten, ausgehend vom Geburtsort Stolberg am Harz, über sein Studium (nachweisbar in Leipzig und Frankfurt/Oder) und sein Wirken als Prediger und Seelsorger vor allem in Braunschweig, Frose, Zwickau, Allstedt und Mühlhausen. Die Leser werden klug über Reformationsund Bauernkriegszeit informiert, theologische Sachverhalte sind verständlich dargestellt. Goertz ist überzeugt, dass »die theologischen Überlegungen Müntzers mit innerer Konsequenz in den sozialen Kampf seiner Zeit führten und die reformatorische beziehungsweise revolutionäre Bewegung prägten«. Dem entspricht der prägnante und zugleich diskutable Untertitel »Revolutionär am Ende der Zeiten«.
Goertz zeigt die Gründe für Müntzers zunehmende Distanzierung von den Wittenberger Theologen. Seine Radikalisierung entsprach seinem apokalyptischen Zeitverständnis. In den städtischen Aufstandsbewegungen in Mühlhausen und in den Bauernerhebungen zwischen Harz und Thüringer Wald sah er das Fanal für das nach seiner Überzeugung unmittelbar bevorstehende göttliche Weltgericht. Das »Ende der Zeiten«, so prophezeite er 1524, führe zu einer neuen Ordnung: »Das Volk wird frei werden und Gott allein will der Herr darüber sein.«
Angesichts des nahenden Finales der »Lutherdekade« und der praktizierten Konzentration auf Luther werden die Leser das Reformationsjahr 1517 als das wahrnehmen, was es war: die Geburtsstunde einer vielgestaltigen reformatorischen Bewegung, die von Thomas Müntzer mit geprägt wurde.
Hans-Jürgen Goertz: Thomas Müntzer. Revolutionär am Ende der Zeiten. C.H. Beck. 352 S., geb., 24,95€.