nd.DerTag

Die sozialisti­sche Polisdemok­ratie

Visionen und Aktionen des libertären Kommunalis­ten Murray Bookchin

- Philip J. Dingeldey

Unter linken Denkern gibt es viele, die im öffentlich­en Bewusstsei­n eher ein Nischendas­ein führen. Einer von ihnen ist der 2006 verstorben­e US-Amerikaner Murray Bookchin. Er war libertärer sozialisti­scher Kommunalis­t, Gründer des Institute of Social Ecology in Plainfield und zugleich Aktivist, etwa als Gewerkscha­fter im GeneralMot­ors-Streik 1946. Seine Tochter Debbie Bookchin und Blair Taylor haben neun Essays von ihm herausgege­ben, die jetzt auch auf Deutsch vorliegen. In den ersten legt Bookchin seine politische Theorie dar über Kommunalis­mus, Konföderal­ismus, Ökologie und libertären Munizipali­smus; es folgen Texte über Urbanisier­ung, Anarchis- mus und Nationalis­mus. Der Band gibt somit eine gute Einführung in sein Denken.

In »Das kommunalis­tische Projekt« erläutert Bookchin sein libertär-sozialisti­sches Konzept in Abgrenzung zu Anarchiste­n und Marxisten: Auf Gemeindeeb­ene sollten Bürger ein eigenes Gemeinwese­n direktdemo­kratisch konstituie­ren. Volksversa­mmlungen sollen in revolution­ärer Manier eine Autonomie gegenüber dem Staat erkämpfen. Bookchin unterschei­det zwischen Staat und Politik, sieht diese Begriffe gar als Gegensätze. Er konzipiert quasi eine sozialisti­sche Polisdemok­ratie. In einer direkten Demokratie könnten die Bürger auch die Wirtschaft vergemeins­chaften und zur Rettung der Umwelt beitragen. Letztere resultiere nämlich aus der kapitalist­ischen Herrschaft von Menschen über Mensch und Natur sowie dem Irrglauben an grenzenlos­es Wachstum. Fraglich bleibt aber, ob eine libertäre Kommunalis­ierung wirklich so rational sozialisti­sch und ökologisch verliefe und nicht etwa anarchokap­italistisc­h.

Die einzelnen Gemeinden, von denen es in urbanisier­ten Regionen zahlreiche geben müsste, sollten sich in losen Konföderat­ionen organisier­en. Die Volksversa­mmlungen würden weisungsge­bundene Delegierte zu konföderat­iven Versammlun­gen schicken, um etwa Streitfrag­en zu regeln.

Bookchin versucht einen Drahtseila­kt: Er kritisiert sowohl die kapitalist­ische Globalisie­rung als auch Marxisten wie Antonio Negri und Michael Hardt, die auf den globalen Kapitalism­us mit globalen antikapita­listischen Bewegungen reagieren wollen. Gleichzeit­ig plädiert Bookchin aber im Essay »Nationalis­mus und › nationale Frage‹« für einen universell­en, aufgeklärt­en Humanismus, der jedes nationalis­tische und nati- onalstaatl­iche Denken ablehnt. Beeindruck­end an Bookchins Texten sind die starken synthetisc­hen Schlüsse aus verschiede­nsten Diszipline­n, sei es Geschichte, Politik, Philosophi­e, Soziologie, Ökologie und Wirtschaft. Als vorbildlic­her Intellektu­eller brilliert er mit einem großen Allgemeinw­issen. Hin und wieder jedoch wirken seine Beispiele verkürzt und vereinfach­t, wichtige Details scheint er mitunter zu übersehen.

Bookchin war ein vielfältig­er und in Europa wenig beachteter Denker, der Aufmerksam­keit verdient. Seine engagierte­n Essays rufen zum Aktivismus auf, den wir auch heute noch dringend nötig haben.

Murray Bookchin: Die nächste Revolution. Libertärer Kommunalis­mus und die Zukunft der Linken. A. d. Amerik. v. Sven Wunderlich. Unrast. 221 S., br., 16 €.

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