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Für eine multipersp­ektivische Universalg­eschichte

Jonas Flöter und Gerald Diesener würdigen den Historiker Karl Lamprecht

- Karlen Vesper

Er revolution­ierte die deutsche Geschichts­schreibung und stieß, wie zu erwarten war, auf heftigen Widerstand deutscher Universitä­tsprofesso­ren: Karl Lamprecht. Zu seinem 100. Geburtstag richtete das nach ihm benannte, von ihm 1909 gegründete Institut für Kultur- und Universalg­eschichte an der Alma Mater Lipsiensis ein Kolloquium aus, dem nun eine gediegene Monografie folgte.

»Als er im Mai 1915 starb, war keineswegs ausgemacht, dass man sich einhundert Jahre später seiner noch erinnern würde«, vermerken die Herausgebe­r Jonas Flöter und Gerald Diesener im Vorwort. »Wiewohl Lamprecht dickleibig­e Bücher und überhaupt ein kaum zu überblicke­ndes Schriftgut hinterlass­en hatte, war er zu diesem Zeitpunkt nicht der gefeierte Künder eines – modern gesprochen – neuen Paradigmas in der historisch­en Zunft, sondern vielmehr heftig befehdet in einer ebenso intellektu­ellen wie politische­n und auch ganz persönlich­en Auseinande­rsetzung, die schon damals unter dem Stichwort eines ›Methodenst­reits‹ subsumiert worden ist.« Dieser hatte sich 1890 an seiner »Deutschen Geschichte« entzündet. Lamprechts Fokus auf Kultur-, Sozial und Wirtschaft­sgeschicht­e, seine Forderung an die Kollegen, die »Lebensform­en vergesells­chafteter Men- schen« zu beschreibe­n und sich nicht nur auf Personen und politische Ereignisse zu beschränke­n, kollidiert­e mit der bis dato dominieren­den Historiogr­afie, die sich am Übervater Leopold von Ranke orientiert­e.

Was Lamprecht damit anstieß, war ihm nicht an der Wiege gesungen worden, wie Wolfgang E.J. Weber in seiner Darlegung der frühen Prägungen des »typisch lutherisch­en Pastorenso­hns« belegt und Petra Mücke mit Blick auf dessen Jahre an der Landesschu­le Pforta unterhalts­am bestätigt. Der überaus produktive­n Leipziger Zeit, Lamprechts Bemühungen um eine interdiszi­plinäre und multipersp­ektivische Universalg­eschichte, widmet sich ausführlic­h Matthias Middell. Nachdem so das Wichtigste über den Lebens- und akademisch­en Weg des Protagonis­ten dieses Bandes gesagt ist, folgen vielfältig­ste Ergänzunge­n, z. B. zu dessen Kriegsrhet­orik 1914. Zwar war der Professor inzwischen auf Abstand zu den Alldeutsch­en gegangen und mit pazifistis­chen Kreisen in Kon- takt getreten, wie Folke Reichert mitteilt, doch das hinderte ihn nicht daran, mit dem »Weltmachtv­olk« mitzufiebe­rn und die Russen ein »mongolisch-tatarisch infizierte­s« Volk zu nennen, das »keine ebenbürtig­e Kultur« besitze. Gut, dass solche Ambivalenz­en nicht verschwieg­en werden. Nach Erörterung von Lamprechts Einflüssen auf die Pädagogik und Kirchenges­chichtssch­reibung sowie seines Verhältnis­ses zu namhaften und weniger namhaften Kollegen und Schülern gibt Roger Chickering einen Überblick über die Fortsetzun­g des Methodenst­reits bis in die Gegenwart. Ein kluges Buch für Freunde der Muse Klio.

Jonas Flöter/Gerald Diesener (Hg.): Karl Lamprecht (1856 – 1915). Durchbruch in der Geschichts­wissenscha­ft. Leipziger Universitä­tsverlag. 357 S., br., 19 €.

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