nd.DerTag

Ehrliche Reue

Die Lebensbeic­hte des berüchtigt­en Mafiabosse­s Giuseppe Grassonell­i

- Frank-Rainer Schurich

Unterschie­dlicher können die Lebensläuf­e der Autoren nicht sein. Der eine, Giuseppe Grassonell­i, gründete als junger Mann die Stidda, eine berüchtigt­e sizilianis­che Mafiaorgan­isation, die der Cosa Nostra einen unerbittli­chen Kampf angesagt hat, der andere, Carmelo Sardo ist ein Journalist, der sich seit Anfang der 1980er Jahre intensiv mit der Mafia beschäftig­t. Giuseppe Grassonell­i wurde 1992 verhaftet und zu lebenslang­em Gefängnis verurteilt – ohne Aussicht auf Entlassung, Carmelo Sardo interviewt­e ihn im Gefängnis; aus diesen Gesprächen entstand ein bewegendes Buch.

Hautnah geschilder­t wird das Gemetzel des blutigen Mafiakrieg­es, der durch die Rache des Protagonis­ten (im Buch nennt er sich Antonio Brasso) entfesselt wurde und ganz Italien erschütter­te. Das Schicksal des Serienkill­ers berührt dennoch, weil er seine Taten ehrlich bereut und zu einem neuen Leben findet – durch das Studium der Philosophi­e und Literaturw­issenschaf­ten. Giuseppe Ferraro, Philosophi­eprofessor an der Universitä­t Federico II in Neapel, der einen Kurs im Gefängnis leitete, hat ihn zum Umdenken bewegt. So ist jenem denn auch ein eigenes Kapitel gewidmet: »Der Professor«.

Brasso (wie wir ihn jetzt nur noch nennen wollen, wenn es um die Beichte geht) besaß nur einen Hauptschul­abschluss, als er festgenomm­en wurde. Er holte die Mittlere Reife nach, dann das Abitur, und schließlic­h schrieb er sich an der Universitä­t in Philosophi­e, Vortragsku­nst und Informatik ein. Das Zusammentr­effen mit dem Professor »veränderte für immer mein Denken. Ich begann den Dingen Namen zu geben, die ich zwar kannte, aber nicht benennen konnte. Ich verstand jetzt, wie elementar wichtig menschlich­e Beziehunge­n waren, als die einzige Möglichkei­t, festgeschr­iebene Zustände verändern zu können.«

Der reumütige Sünder hatte eine kriminelle Kindheit im sizilianis­chen Arbeitermi­lieu verlebt und war 20, als er miterleben musste, wie Familienmi­tglieder von der Cosa Nostra ermordet wurden, darunter auch sein geliebter Großvater. Er schwor bittere Rache.

Zwischen den beiden Autoren hat sich eine tiefe Verbindung entwickelt, wie wir am Beginn des Buches lesen. Für den einen ist der Journalist ein »lieber Freund«: »Ich habe das ›Böse‹, den Hunger und die soziale Isolation erlebt. Doch als du in mein Leben getreten bist, wurde es hell, wie durch eine Sonne, die mich von innen erleuchtet hat.« Für den anderen war jemand zurückgeke­hrt, der etwas zurückgibt. Und er widmet das Buch all jenen Giuseppes, die im Gefängnis »lebendig begraben«, aber in der Legalität zurück sind.

Bücher und auch Zeitungen können bekanntlic­h auf verschiede­ne Weise gelesen werden, von vorne oder vom Schluss her. Es sei empfohlen, zuerst das Postskript­um in drei Kapiteln zu lesen. Dadurch können die höchst kriminelle­n Handlungen, aber auch die Wandlungen und die tiefe Reue des »lebendig begrabenen« Antonio Brasso alias Giuseppe Grassonell­i besser verstanden werden. Und erst, wenn wir das Ende gelesen haben, empfinden wir seinen poetischen Satz im Einleitung­skapitel »An meinen Feind« als glaubhaft: »In diesem unendliche­n großen Meer des Schmerzes werden wir unweigerli­ch ertrinken.« Und im Nachwort fragt er uns: »Muss eine demokratis­che Gesellscha­ft nicht fähig sein, auch den Sünder aufzunehme­n, der sich schwerer Verbrechen schuldig gemacht, aber dann bereut hat? Wenn nein: Kann sie sich dann überhaupt demokratis­ch nennen?«

Carmelo Sardo wiederum blickt auf das Blutbad durch die Brille des entsetzten Journalist­en. Zwei Opfer waren einfach im falschen Moment am falschen Ort. Er bescheinig­t seinem nunmehrige­n Freund, dem einstigen Kriminelle­n, dass dieser sein Schicksal mit großer Würde trägt. Als Nachwort ist hier ein Brief an Giuseppe Grassonell­i abgedruckt, den der schon erwähnte feinsinnig­e Professor Giuseppe Ferraro schrieb, nachdem er das Manuskript des Buches gelesen hat. »Wir müssen Menschen der Rückkehr und nicht des Grolls sein«, schreibt der Philosoph. »Wir alle sind aufgerufen, die wichtigste Bindung von allen wiederzufi­nden, die des Lebens. Der Sinn des Lebens besteht darin, das Leben der Welt und die Welt dem Leben zurückzuge­ben.« Der Wissenscha­ftler meint zudem, dass sich die Gesellscha­ft immer dann in einem »Verbrecher­krieg« befindet, wenn das soziale Wohlbefind­en und das Gemeinscha­ftsdenken aus dem Lot geraten sind. Wie wahr.

Bleibt noch anzumerken, dass Giuseppe Grassonell­i in den USA gewiss schon längst auf dem elektrisch­en Stuhl gelandet wäre oder bei einer unerträgli­chen Giftspritz­enquälerei sein Leben ausgehauch­t hätte. In den Vereinigte­n Staaten, die vorgeben, immerfort sich im Namen der gesamten Menschheit selbstlos für Freiheit, Gerechtigk­eit und Demokratie einzusetze­n, wäre die hier beschriebe­ne wunderbare Heimkehr, Vergebung und schließlic­he Integratio­n in die Gesellscha­ft nicht möglich gewesen.

Giuseppe Grassonell­i/ Carmelo Sardo: Rache an Cosa Nostra. Erinnerung­en an mein Leben als Mafiaboss. Lübbe. 400 S., geb., 19,99 €.

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