Kleines indisches Königreich
Hiltrud Rüstau und Imke Jörns laden zu einer Reise nach Sikkim ein
Der indische oder geografisch korrekter: südasiatische Subkontinent, im Osten, Süden und Westen vom Meer umflossen und im Norden von den eisigen Höhen des Himalaya abgeriegelt, wurde und wird häufig als eine Welt für sich beschrieben. Auch sein Kernland Indien mit mehr als einer Milliarde Einwohnern – weltoffen und zugleich vielfach von der Außenwelt nicht völlig begreifbar – umgibt noch heute Geheimnisvolles.
Nach Jahrzehnten wissenschaftlicher Forschung und Lehre über Indien hat sich Hiltrud Rüstau der gesellschaftlichen Realität von Mahabalipuram im Süden Indiens bis zu den Ladakhi Trails im Norden, von Rajasthan im Westen bis Darjeeling und Gangtok im Nordosten auch auf Wegen jenseits der gängigen Touristenpfade begeben, um zu verstehen, was sich wie in diesem Land vollzieht. Sie erkannte, dass die medialen und politisch einschlägigen Diskurslinien Indiens Selbstverständnis nicht entsprechen – eine Großmacht, die unter der Kollision von zentralstaatlichen und innerregionalen Machtinteressen schwankt und die Kluft zwischen technologischem Fortschritt und andauernder Massenarmut scheinbar nicht zu überwinden vermag. Nach ihren Büchern über Uttaranchal (»Dem Himmel ein Stück näher«), Chattisgarh (mit Katja Eichner, »Schatzkammer Indiens«) ließ sie nun mit Imke Jörns einen Reisebericht über Sikkim folgen.
Das nur 7300 Quadratkilometer große und spärlich bevölkerte kleine Königreich im östlichen Himalaya – eingezwängt zwischen Indien, Bhutan, Nepal und Tibet – wurde bereits zur Zeit der East India Company (1817) britisches Protektorat, weil es als Puffer zum chinesischen Reich dienen sollte. Nach der Erlangung der indischen Unabhängigkeit wurden die Verträge Großbritanniens mit Sikkim durch den India-Sikkim Peace Treaty vom 8. Dezember 1950 zwar aufgehoben, der Protektoratsstatus wurde jedoch festgeschrieben. Die militärische Konfrontation zwischen Indien und China ab 1959 und besonders der Himalaya-Krieg von 1962 schufen eine völlig neue geostrategische Situation und das bis dahin unbedeutende Sikkim erlangte für Indien nun eine strategische Dimension.
Vor diesem regionalpolitischen Hintergrund formierte sich in Sikkim eine starke Volksbewegung gegen das herrschende Feudalsystem, Demokratie, Partizipation und eine enge Anlehnung an Indien fordernd. Nach den ersten allgemeinen Wahlen konstituierte sich 1974 die Nationalversammlung, sie machte den König (Chogyal) zum bloßen Titular-Oberhaupt und stellte einen Antrag auf Vertre- tung im indischen Parlament. Die indische Erklärung Sikkims zum »assoziierten Staat« wurde durch ein Referendum legitimiert. Sikkim wurde am 22. April 1975 offiziell 22. Bundesstaat Indiens.
Das kleine abgeschiedene Land wurde nun peripherer Teil eines riesigen Staatsgebildes mit zahllosen unterschiedlichen Identitäten und somit auch vor neue Loyalitäts-, Legitimitätsund Identitätszwänge gestellt. Sikkim ist quasi ein Modellfall für die Integration eines feudal geprägten, wirtschaftlich extrem rückständigen Gebietes in einen föderalen, multiethnischen und multireligiösen Staat mit einer nachholenden kapitalistischen Entwicklung.
Nach einer kurzen, aber einprägsamen geografischen Einführung durch Gottfried J. Freitag und einer Skizzierung wesentlicher historisch-politischer, ethnischer und religiöser Zusammenhänge werden die Menschen Sikkims, deren Lebensverhältnisse und Geisteswelt ausführlich wie anschaulich vorgestellt. Hiltrud Rüstau und Imke Jörns preisen die überwältigende Schönheit der Natur und die natürliche Freundlichkeit der Menschen, auch jener, die unter schwierigsten Bedingungen um ihre Existenz kämpfen müssen. Sikkim sei »eine Region voller Naturschönheiten und einer reichen, vielseitigen Kultur, in der das friedliche Zusammenleben so vieler unterschiedlicher ethnischer Gruppen am meisten beeindruckt«. Es bleibt zu hoffen, dass dies noch lange so bleibt und nicht die fatalen Mechanismen wie in anderen indischen Unionsstaaten auch in Sikkim zu wirken beginnen.
In der Schilderung der Autorinnen wird vor allem die bedeutende Integrationsleistung der sikkimesischen Gesellschaft deutlich und das bis heute friedliche Zusammenleben zahlreicher unterschiedlicher ethnischer Gruppen mit unterschiedlichen religiösen Bekenntnissen. Nicht zuletzt sind die Ausführungen zu verschiedenen Ausprägungen des Buddhismus ein Gewinn für den interessierten Leser. Hiltrud Rüstau und Imke Jörns unterstreichen bei aller Begeisterung aber auch, dass Sikkim keineswegs als eine pastorale Idylle zu betrachten ist.
Dieser Reisebericht ist auch deshalb im besten Sinne ein Reisebuch, weil der Leser angeregt wird, den Spuren der beiden Autorinnen zu folgen.
Hiltrud Rüstau/Imke Jörns: Wo Windpferde die Götter grüßen. Sikkim – Das verborgene Juwel. Trafo. 352 S., br., 39,80 €.