Spione, die in der Kälte standen
Vor 30 Jahren: Letzter Agentenaustausch auf der Glienicker Brücke.
Eiskalt war es am 11. Februar 1986. Es schneite. Doch die Glienicker Brücke strahlte im gleißenden Sonnenlicht. Die geteerte Straße blinkte blütenweiß. Nur in der Mitte der Brücke war der Schnee halbwegs beiseite gekehrt, damit der weiße Strich, der die Grenze zwischen Ost und West, zwischen zwei Imperien markierte, sichtbar sei. Es war ein Tag, der zum Spaziergang einlud. Und tatsächlich: Aus Richtung Potsdam kamen vier, von WestBerlin aus machten sich fünf Männer auf den Weg. Eine Inszenierung. Ein Medienereignis. Ein Politikum.
Die Schlagzeilen vor allem in den Westmedien hatte in den Wochen zuvor der Bürgerrechtler, Dissident und Oppositionelle Anatolij Schtscharanski aus Stalino okkupiert. Im März 1977 war er in der Sowjetunion als »westlicher Spion« verhaftet und im folgenden Jahr wegen Hochverrats und Spionage für die USA zu 13 Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden. Neun Jahre verbrachte er im Arbeitslager bei Perm im Ural. Nun stand er in der Eiseskälte an der berühmten »Agenten-Brücke«. Sollte auch er wie die anderen Männer als Spion ausgetauscht werden?
Mit der unbändigen Lust auf Symbolik hatten sich die konträren Verhandlungspartner darauf geeinigt, den 38-jährigen Russen als ersten über die Brücke zu schicken – den anderen voran. Er gehörte somit nicht zu jenen, den Agenten. Wenige Schritte vor der weißen Linie fragte Schtscharanski seine Begleiter: »Wo ist die Grenze?« – »Genau hier, dieser dicke weiße Strich«, lautete die Antwort. Schtscharanski nahm Anlauf – und sprang hinüber. Ein Jahrzehnt später wird er in Israel ein Ministeramt bekleiden und Stellvertreter des Ministerpräsidenten sein.
In monatelangen Verhandlungen hatten die Unterhändler hinter verschlossenen Türen die Liste der auszutauschenden Personen austariert. Sie tangierte in dieser oder jener Form sechs Staaten. Kein leichtes Unterfangen also. Die knifflige Aufgabe lösten als Vertreter der östlichen Seite DDR-Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, sekundiert vom MfS-Oberst Heinz Volpert, und als Beauftragter der westlichen Seite der bundesdeutsche Jurist Ludwig Rehlinger. Dem vorangegangen waren freilich entsprechende Weichenstellungen in Moskau und Washington.
Aus Richtung Potsdam kam der 40jährige Wolf-Georg Frohn, der bei den Carl-Zeiss-Werken in Jena als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war – zugleich offenkundig auch für die CIA. 1980 inhaftiert, ist er zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden. Größeren Bekanntheitsgrad als der deutsche Wissenschaftler erlangte der Tscheche Jaroslav Javorsky. Bei einem Aufenthalt in der Bundesrepublik hatte er politisches Asyl beantragt. Im Oktober 1977 kehrte er jedoch in die CSSR zurück, um seine Verlobte nachzuholen. Die Falle schnappte zu. Javorsky wurde arretiert und ein Jahr später wegen Spionage und Republikflucht zu 13 Jahren Haft verurteilt. Die hatte er größtenteils verbüßt, als er heimlich in die DDR gefahren wurde – zum Austausch. Öffentliche Beachtung hatte er vor allem deshalb erfahren, weil sich der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß persönlich für ihn exponierte; der spendable Bayer war stets ein gern gesehener Gast am Wer-
Der Dissident Anatolij Schtscharanski (l. mit Schapka) wird vom US-Botschafter Richard Burt am 11. Februar 1986 in Empfang genommen. bellinsee. Und schließlich gab es noch einen 50-jährigen westdeutschen Handelsvertreter für medizinische Geräte, namens Dietrich Nistroy. Er war 1981 in der DDR als Agent des BND aufgeflogen. Das Militärgericht der DDR verurteilte ihn zu lebenslanger Freiheitsstrafe. Soweit zum Austauschpersonal aus dem Osten.
Die von westlicher Seite freigegebenen Männer sind erst am frühen Morgen des 11. Februar 1986 mit einer US-amerikanischen Militärmaschine in Tempelhof gelandet. Mit Blaulicht, einem Funkwagen voran, gefolgt vom goldfarbenen Mercedes des DDR-Unterhändlers Wolfgang Vogel, wurden die Spione in zwei dunkelblauen Kleinbussen durch das langsam erwachende Westberlin zur Glienicker Brücke gefahren. Darunter Karel Koecher, der vom tschechoslowakischen Nachrichtendienst 1962 angeheuert worden war und sich in dessen Auftrag drei Jahre später in die USA absetzte, wo er studierte, 1971 die Staatsbürgerschaft erhielt und zwei Jahre darauf beim CIA als Übersetzer angestellt wurde. Im November 1984 nahm ihn das FBI mit seiner Frau Hana fest. Beide leugneten, bis ihnen zugesichert wurde, sie würden ausgetauscht, wenn sie ein Geständnis ablegten. Karel Koecher arbeitete später an einem Prager Ökonomieinstitut.
Mit von der Partie an jenem 11. Februar 1986 ist Jerzy Kaczmarek, der im März 1985 verhaftet, aber noch nicht verurteilt worden war. Der polnische Nachrichtendienstler war in Bremen seit 1978 operativ ak- tiv gewesen, insbesondere beim Amt für Aussiedler und Spätheimkehrer. Sodann war da der 39-jährige Jewgenij Semljakow, vordem Mitglied der sowjetischen Handelsmission in Köln. Er war bei dem Versuch, Embargogüter wie Hochfrequenztransistoren, elektronische Präzisionsmessinstrumente und Richtfunkantennen über deutsche Kaufleute für die Sowjetunion zu beschaffen, im September 1985 »erwischt« worden. Das brachte ihm in Düsseldorf ein Urteil mit drei Jahren Haft ein. Und schließlich gehörte zu dem kleinen Trupp von westlicher Seite noch der 43-jährige Diplomvolkswirt Detlef Scharfenorth. Er war seit 1969 im Auftrag der DDR-Staatssicherheit in der Bundesrepublik unterwegs, um nach talentierten Studenten Aus- schau zu halten. Zum Verhängnis wurde ihm der Kontakt zur Jobvermittlung an der Universität in Köln. Er geriet ins Visier des Verfassungsschutzes. Im September 1984 festgenommen, war er zu vier Jahren Haft verurteilt worden.
Obgleich der SED-Chef und Staatsratsvorsitzende Erich Honecker wie auch sein sowjetisches Pendant Michail Gorbatschow am »Rummel« auf der Glienicker Brücke stets außerordentlich interessiert waren, war aus der Presse der »Bruderländer« darüber so gut wie nichts zu erfahren. Das »Neue Deutschland« hielt sich bezüglich des Agentenaustausches vor 30 Jahren vornehm zurück. Die denkbar nüchterne Meldung lautete: »Auf Grund von Vereinbarungen zwischen den USA und der BRD
Die »Agenten-Brücke« sowie der UdSSR, der CSSR, der VRP und der DDR fand am Dienstag, den 11. Februar 1986 ein Austausch von Personen statt, die durch die jeweiligen Länder inhaftiert worden waren. Darunter befanden sich mehrere Kundschafter.«
Damals war geopolitisch bereits eine neue Ära angebrochen, die zu akzeptieren allerdings nicht alle bereit waren. Für das beginnende Tauwetter zwischen USA und UdSSR konnte sich vor allem die alte SEDRiege nicht erwärmen. Michail Gorbatschow, seit März 1985 Generalsekretär der KPdSU, setzte jedoch unbeirrt Zeichen, so mit der frühzeitig dem US-Präsidenten Ronald Reagan signalisierten Freilassung von Schtscharanski. Der Kremlherr war willens, dem Kalten Krieg und dem Wettrüsten ein Ende zu bereiten. Die neun Spione, die am 11. Februar 1986 in der Kälte standen, bevor sie die Seiten wechseln durften, spazierten quasi in eine neue Zeit. Was sie damals natürlich nicht ahnten.