Ein kurzer Sommer der Anarchie
Roman Rausch: Die Geschichte des Pfeifers von Niklashausen als politischer Thriller
Unsichere Zeiten, in denen die Angst vor wirtschaftlichem Abstieg, vor Not, Terror und Tod grassierte, waren schon immer Phasen, in denen Populisten Auftrieb bekamen. Diese lieferten vermeintlich einfache Antworten auf komplizierte Verhältnisse. In diesen Zeiten entwickelten sich aber seit je her auch die Kräfte, die die Fesseln der alten Ordnung sprengen wollten; einer Ordnung, die längst nicht mehr in der Lage war, Sicherheit zu vermitteln und von einer wachsenden Zahl von Menschen nicht mehr als gerecht empfunden wurde. Diese Kräfte hatten ihre Konjunkturen – und gerieten wieder in Vergessenheit. Erst viele Jahre später erinnerte man sich an manche von ihnen als die Vorboten des Umsturzes. Wer weiß heute schon, ob Erscheinungen wie das globalisierungskritische Bündnis Attac, die Protestbewegung Blockupy oder das derzeitige, unter dem Namen »Nuit Debout« bekannt gewordenen Aufbegehren der bürgerlichen Jugend Frankreichs Modeerscheinung einer gelangweilten, konsumgesättigten Jugend sind oder Vorzeichen des Aufstandes?
Die Antwort können nur spätere Generationen geben; so wie nur die heute Lebenden über die Vergangenheit urteilen können. 1476 lassen in Mitteleuropa Hunger und Ausbeutung durch den Adel und den Klerus die armen Bauern verzweifeln. Die Mönche in den Klöstern bereichern sich schamlos, die Priester ziehen den Aufenthalt im Bordell dem in ihren Gotteshäusern vor und für die Mächtigen in den Fürstenhäusern ist die Politik nur noch ein Spiel, in dem es um die kurzweilige Ablenkung vom langweiligen Alltag geht, den der ererbte Reichtum und Stand mit sich bringt. Da macht im Frühsommer des Jahres die Meldung die Runde, dass im fränkischen Niklashausen dem Schafhirten und Musikanten Hans Behem (der Name deutet darauf hin, dass seine Vorfahren aus Böhmen stammten, die nach der Niederschlagung der reformerischen Hussiten-Bewegung als Flüchtlinge in Franken siedelten) die Muttergottes erschienen sein und ihn aufgefordert haben soll, gegen die Verderbtheit der Pfaffen und die Unterdrückung durch den hohen Adel zu predigen. Als »Pfeifer von Niklashausen« zieht der charismatische Jüngling, der zu diesem Zeitpunkt kaum 18 Jahre alt ist, die Massen an: Tausende, einige Überlieferungen sprechen von bis zu 20 000 Menschen lagern nach wenigen Wochen in dem und um das kleine Dorf an der Tauber.
Nicht nur Bauern, auch kleine Landadelige – die immer mehr durch die Bischöfe und Fürsten um ihre Privilegien gebracht werden – schließen sich dem Jüngling an. Sie verlassen die Felder ihrer Herren, ihre verfallenden Burgen und pilgern aus ganz Fran- ken, Thüringen und Schwaben in das kleine Nest im Bistum Würzburg; manche machen sich sogar aus dem fernen Elsass auf den Weg ins Taubertal. Was zunächst nur eine Wallfahrt enthusiastischer und euphorisierter Gläubiger ist, wird schnell zu einer Bedrohung für Adel und Klerus, denn Hans Behem predigt nicht nur über die geistige Reinheit der Armut und den Segen der puritanischen Lustentsagung, er fordert in seinen täglichen Predigten unverhohlen zum Sturz der weltlichen und geistlichen Ordnung auf; sein gebetsmühlenartig wiederholtes »Schlagt die Pfaffen tot!« wird zum Schlachtruf der Pilger. Nach wenigen Wochen ist der Spuk vorbei; Hans Behem wird von den Landsknechten des Würzburger Bischofs entführt, ihm wird der Prozess gemacht und er endet am 19. Juli 1476 als Ketzer auf dem Scheiterhaufen. Die, die ihm folgten, werden vertrieben, einige totgeschlagen.
Doch schon damals gab es Gerüchte, dass der theologisch ungebildete Hans Behem nicht allein gehandelt hat. Zeitgenössische Gemälde zeigen ihn mit einem »Einflüsterer« im Hintergrund. Hat ihn vielleicht auch der Markgraf von Ansbach, Albrecht Achilles von Preußen, als taktisches Werkzeug gegen den Würzburger Fürstbischofs Rudolf II. von Scherenberg eingesetzt, mit dem er um Einfluss und Macht in der Region und im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation stritt? Der aus der Region um Würzburg stammende Berliner Schriftsteller Roman Rausch hat rund um die von Hans Behem ausgelösten Ereignisse des Jahres 1476 einen historischen Roman gestrickt, der eng an den historischen Fakten entlang eine Geschichte über einen kurzen Sommer der Anarchie erzählt. Neben den historisch verbürgten Personen – dem Würzburger Bischof und dem mächtigen Markgrafen Albrecht Achilles stand auf Seiten der Wallfahrer der Ritter Kunz von Thunfeld mit seinem Gefolge gegenüber – hat Rausch einige fiktive Figuren in die Geschichte integriert: eine Freifrau Clarissa von Winterfeld, die Hans Behem im Auftrag des Markgrafen für ihr politisches Intrigenspiel ausnutzt, den Einsiedler und theologisch bewanderten Jeronimus, der den naiven Jüngling Hans als Sprachrohr für seinen Feldzug gegen den Klerus nutzt, den Dorfpfarrer Ulrich, der sich von den vielen Pilgern eine finanziell einträgliche Aufwertung seiner kleinen Dorfkirche zum Wallfahrtsort verspricht und die Bademagd Magdalena, einst Gespielin der Pfaffen und weltlichen Herren, die sich in Hans Behem verliebt und von einer gemeinsamen Zukunft träumt.
Die Drei inszenieren zusammen mit Hans ein Marienwunder, wobei der Jüngling zunächst nur ihr willfähriges Instrument ist. Die Berühmtheit, die Ehrerbietung, die ihm entgegengebracht wird, verändern Hans jedoch. Bald ist er davon überzeugt, dass ihm die Mutter Gottes wirklich erschienen und er der neue Messias ist. Seiner Glaubwürdigkeit bei den zu ihm pilgernden Massen tut das keinen Abbruch – im Gegenteil: Jeronimus, Ulrich und Magdalena entgleitet zunehmend die Kontrolle; am Ende werden sie mit hineingezogen in den Strudel aus religiösen Wahnvorstellungen, Allmachtsfantasien – und damit zum leichten Opfer der kirchlichen wie weltlichen Obrigkeit. Einzig bei Magdalena siegt am Ende der opportunistische Selbsterhaltungstrieb über Ideologietreue.
Das Ende des Hans Behem ist schrecklich. Roman Rausch spart auch das nicht aus. Was danach kommt, ist Geschichte. »Wegen seiner Gefangennahme kam es unter der fränkischen Landbevölkerung zu einem kurzzeitigen, spontanen Massenprotest«, heißt es kurz und knapp im Wikipedia-Eintrag zum Pfeifer von Niklashausen. 50 Jahre später standen im Süden des Reiches die Bauern gegen ihre Herren auf und ein kleiner Mönch aus Wittenberg bot der römischen Kurie die Stirn. An Hans Behem aber erinnerte man sich schon damals nicht mehr. Friedrich Engels holte ihn wieder ins deutsche Gedächtnis zurück. Seit 2001 gibt es in Würzburg ein Denkmal für Hans Behem, aufgestellt an der Stelle, an der er 525 Jahre zuvor hingerichtet wurde.