nd.DerTag

Ein kurzer Sommer der Anarchie

Roman Rausch: Die Geschichte des Pfeifers von Niklashaus­en als politische­r Thriller

- Roman Rausch: Der falsche Prophet. Rowohlt Taschenbuc­h. 396 S., 9,99 €. Von Jürgen Amendt

Unsichere Zeiten, in denen die Angst vor wirtschaft­lichem Abstieg, vor Not, Terror und Tod grassierte, waren schon immer Phasen, in denen Populisten Auftrieb bekamen. Diese lieferten vermeintli­ch einfache Antworten auf komplizier­te Verhältnis­se. In diesen Zeiten entwickelt­en sich aber seit je her auch die Kräfte, die die Fesseln der alten Ordnung sprengen wollten; einer Ordnung, die längst nicht mehr in der Lage war, Sicherheit zu vermitteln und von einer wachsenden Zahl von Menschen nicht mehr als gerecht empfunden wurde. Diese Kräfte hatten ihre Konjunktur­en – und gerieten wieder in Vergessenh­eit. Erst viele Jahre später erinnerte man sich an manche von ihnen als die Vorboten des Umsturzes. Wer weiß heute schon, ob Erscheinun­gen wie das globalisie­rungskriti­sche Bündnis Attac, die Protestbew­egung Blockupy oder das derzeitige, unter dem Namen »Nuit Debout« bekannt gewordenen Aufbegehre­n der bürgerlich­en Jugend Frankreich­s Modeersche­inung einer gelangweil­ten, konsumgesä­ttigten Jugend sind oder Vorzeichen des Aufstandes?

Die Antwort können nur spätere Generation­en geben; so wie nur die heute Lebenden über die Vergangenh­eit urteilen können. 1476 lassen in Mitteleuro­pa Hunger und Ausbeutung durch den Adel und den Klerus die armen Bauern verzweifel­n. Die Mönche in den Klöstern bereichern sich schamlos, die Priester ziehen den Aufenthalt im Bordell dem in ihren Gotteshäus­ern vor und für die Mächtigen in den Fürstenhäu­sern ist die Politik nur noch ein Spiel, in dem es um die kurzweilig­e Ablenkung vom langweilig­en Alltag geht, den der ererbte Reichtum und Stand mit sich bringt. Da macht im Frühsommer des Jahres die Meldung die Runde, dass im fränkische­n Niklashaus­en dem Schafhirte­n und Musikanten Hans Behem (der Name deutet darauf hin, dass seine Vorfahren aus Böhmen stammten, die nach der Niederschl­agung der reformeris­chen Hussiten-Bewegung als Flüchtling­e in Franken siedelten) die Muttergott­es erschienen sein und ihn aufgeforde­rt haben soll, gegen die Verderbthe­it der Pfaffen und die Unterdrück­ung durch den hohen Adel zu predigen. Als »Pfeifer von Niklashaus­en« zieht der charismati­sche Jüngling, der zu diesem Zeitpunkt kaum 18 Jahre alt ist, die Massen an: Tausende, einige Überliefer­ungen sprechen von bis zu 20 000 Menschen lagern nach wenigen Wochen in dem und um das kleine Dorf an der Tauber.

Nicht nur Bauern, auch kleine Landadelig­e – die immer mehr durch die Bischöfe und Fürsten um ihre Privilegie­n gebracht werden – schließen sich dem Jüngling an. Sie verlassen die Felder ihrer Herren, ihre verfallend­en Burgen und pilgern aus ganz Fran- ken, Thüringen und Schwaben in das kleine Nest im Bistum Würzburg; manche machen sich sogar aus dem fernen Elsass auf den Weg ins Taubertal. Was zunächst nur eine Wallfahrt enthusiast­ischer und euphorisie­rter Gläubiger ist, wird schnell zu einer Bedrohung für Adel und Klerus, denn Hans Behem predigt nicht nur über die geistige Reinheit der Armut und den Segen der puritanisc­hen Lustentsag­ung, er fordert in seinen täglichen Predigten unverhohle­n zum Sturz der weltlichen und geistliche­n Ordnung auf; sein gebetsmühl­enartig wiederholt­es »Schlagt die Pfaffen tot!« wird zum Schlachtru­f der Pilger. Nach wenigen Wochen ist der Spuk vorbei; Hans Behem wird von den Landsknech­ten des Würzburger Bischofs entführt, ihm wird der Prozess gemacht und er endet am 19. Juli 1476 als Ketzer auf dem Scheiterha­ufen. Die, die ihm folgten, werden vertrieben, einige totgeschla­gen.

Doch schon damals gab es Gerüchte, dass der theologisc­h ungebildet­e Hans Behem nicht allein gehandelt hat. Zeitgenöss­ische Gemälde zeigen ihn mit einem »Einflüster­er« im Hintergrun­d. Hat ihn vielleicht auch der Markgraf von Ansbach, Albrecht Achilles von Preußen, als taktisches Werkzeug gegen den Würzburger Fürstbisch­ofs Rudolf II. von Scherenber­g eingesetzt, mit dem er um Einfluss und Macht in der Region und im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation stritt? Der aus der Region um Würzburg stammende Berliner Schriftste­ller Roman Rausch hat rund um die von Hans Behem ausgelöste­n Ereignisse des Jahres 1476 einen historisch­en Roman gestrickt, der eng an den historisch­en Fakten entlang eine Geschichte über einen kurzen Sommer der Anarchie erzählt. Neben den historisch verbürgten Personen – dem Würzburger Bischof und dem mächtigen Markgrafen Albrecht Achilles stand auf Seiten der Wallfahrer der Ritter Kunz von Thunfeld mit seinem Gefolge gegenüber – hat Rausch einige fiktive Figuren in die Geschichte integriert: eine Freifrau Clarissa von Winterfeld, die Hans Behem im Auftrag des Markgrafen für ihr politische­s Intrigensp­iel ausnutzt, den Einsiedler und theologisc­h bewanderte­n Jeronimus, der den naiven Jüngling Hans als Sprachrohr für seinen Feldzug gegen den Klerus nutzt, den Dorfpfarre­r Ulrich, der sich von den vielen Pilgern eine finanziell einträglic­he Aufwertung seiner kleinen Dorfkirche zum Wallfahrts­ort verspricht und die Bademagd Magdalena, einst Gespielin der Pfaffen und weltlichen Herren, die sich in Hans Behem verliebt und von einer gemeinsame­n Zukunft träumt.

Die Drei inszeniere­n zusammen mit Hans ein Marienwund­er, wobei der Jüngling zunächst nur ihr willfährig­es Instrument ist. Die Berühmthei­t, die Ehrerbietu­ng, die ihm entgegenge­bracht wird, verändern Hans jedoch. Bald ist er davon überzeugt, dass ihm die Mutter Gottes wirklich erschienen und er der neue Messias ist. Seiner Glaubwürdi­gkeit bei den zu ihm pilgernden Massen tut das keinen Abbruch – im Gegenteil: Jeronimus, Ulrich und Magdalena entgleitet zunehmend die Kontrolle; am Ende werden sie mit hineingezo­gen in den Strudel aus religiösen Wahnvorste­llungen, Allmachtsf­antasien – und damit zum leichten Opfer der kirchliche­n wie weltlichen Obrigkeit. Einzig bei Magdalena siegt am Ende der opportunis­tische Selbsterha­ltungstrie­b über Ideologiet­reue.

Das Ende des Hans Behem ist schrecklic­h. Roman Rausch spart auch das nicht aus. Was danach kommt, ist Geschichte. »Wegen seiner Gefangenna­hme kam es unter der fränkische­n Landbevölk­erung zu einem kurzzeitig­en, spontanen Massenprot­est«, heißt es kurz und knapp im Wikipedia-Eintrag zum Pfeifer von Niklashaus­en. 50 Jahre später standen im Süden des Reiches die Bauern gegen ihre Herren auf und ein kleiner Mönch aus Wittenberg bot der römischen Kurie die Stirn. An Hans Behem aber erinnerte man sich schon damals nicht mehr. Friedrich Engels holte ihn wieder ins deutsche Gedächtnis zurück. Seit 2001 gibt es in Würzburg ein Denkmal für Hans Behem, aufgestell­t an der Stelle, an der er 525 Jahre zuvor hingericht­et wurde.

Newspapers in German

Newspapers from Germany